Schattenhaus
routiniert zu tippen. Nach gerade einmal zwei Zeilen zog er das Blatt aus der Maschine und hielt es Nadia am ausgestreckten Arm zum Lesen hin. Während Nadia las, blickte Matthias Olsberg sie die ganze Zeit eindringlich an. Als sie fertig war, sah sie hoch, erwiderte den Blick und senkte dann die Augen. «Hast du Feuer?», fragte Olsberg leise. Ohne ein Wort zog Nadia ein Feuerzeug aus der Tasche und reichte es ihm. Er zündete das Blatt an, während er es an einer Seite festhielt.
«Los, rein, nehmt ihm das Feuerzeug und das Blatt weg», befahl Winter über Funk den vor der Tür positionierten Beamten. Doch die konnten nicht mehr viel ausrichten: Der Rand des Blattes, der die Schrift enthielt, war schon zu einem gerollten schwarzen Etwas verkohlt.
Nadia nahmen sie in einem zweiten Raum beiseite. Doch als Winter eintrat und den harten, trotzigen Gesichtsausdruck des Mädchens sah, ahnte er schon, wie es ausgehen würde. «Danke, Nadia, dass du dich darauf eingelassen hast», begann er, um guten Wind zu machen. «Das war sehr mutig von dir. Was stand denn auf dem Zettel?»
«Sag isch nisch», nuschelte Nadia. Und dabei blieb es.
Aus alledem schloss Winter, dass in dem moralischen Universum, in dem Matthias und die Familie Boutaleb lebten, seine Tat eine Art Berechtigung gehabt hatte. Said hatte sich etwas zuschulden kommen lassen, das Nadia zu offenbaren peinlich war. Und dafür hatte Matthias ihn hingerichtet.
Winter vermutete damals einen Verstoß gegen die Verbrecherehre. Vielleicht hatte Said seinen Kumpan Matthias bei irgendeinem gemeinsamen Coup auf besonders üble Weise übertölpelt.
Worum es wirklich gegangen war, kam erst Monate später ans Licht. Und zwar während des Prozesses, in dem Olsberg zu einer Jugendstrafe nahe am gesetzlich möglichen oberen Limit verurteilt wurde. Eigentlich musste Olsberg heute noch im Gefängnis sitzen. Doch als Winter das überprüfte, stellte sich heraus: Matthias Olsberg war im Juni aus der Haft entlassen worden. Verfrüht, wegen guter Führung. Und zwar genau vier Tage bevor der Notruf eines Herrn Olsberg aus Birthe Feldkamps Haus bei der Polizei einging.
Das war doch verrückt. War es möglich, dass es derselbe Olsberg war und dass das alles zusammenhing? Olsbergs Entlassung mit dem Tod der drei Frauen?
Jetzt spinne ich, überlegte Winter. Wahrscheinlich hatte Fock recht, und er rannte überhaupt seit Januar Phantasiegespinsten hinterher.
Da kam Winter noch eine Erinnerung. Als er wegen Grafton in der Uni gewesen war, war ihm in der Cafeteria ein Student von Mitte zwanzig aufgefallen, der ihm sehr bekannt vorkam, dessen Gesicht er aber nicht einordnen konnte. Der junge Mann hatte ihn eindringlich gemustert, sich dann aber abrupt abgewandt. Plötzlich war Winter sich sicher: Er hatte an jenem Tag Matthias Olsberg gesehen.
Ihm blieb nichts anderes übrig, er musste sich an die Bewährungshilfe wenden und herausbekommen, ob der Absetzer des Notrufs tatsächlich mit dem Mörder Olsberg identisch war.
***
Winter ging am folgenden Montag in aller Frühe zu Fock. Der sah noch immer gutgelaunt aus. Nur die Vase mit den Lilien war verschwunden.
«Ach ja, Winter. Gibt’s endlich Erfolge?»
«Wie man’s nimmt. Es wird noch komplizierter. Ich habe Freitagabend etwas herausgefunden. Und zwar betreffs dieser Klassenkameradin von Sabrina Vogel, die an einer Pilzvergiftung gestorben ist. Diese Birthe Feldkamp war am Tag ihrer Vergiftung nicht allein im Haus. Sie hatte seit mehreren Tagen einen Untermieter. Und zwar einen gewissen Matthias Olsberg, den wir mal wegen Mordes an einem jungen Marokkaner eingebuchtet haben und der damals acht Jahre Jugendstrafe bekommen hat. Vier Tage vor Birthe Feldkamps Vergiftung wurde er aus der Haft entlassen.»
Focks Gesicht war jetzt ausdruckslos. «Olsberg? War das der Jugendliche, der einem anderen den Kopf abgesägt hat?»
«Genau der.» Der Mord an dem jungen Said Boutaleb war damals sogar hartgesottenen Kriminalern an die Nieren gegangen. So etwas vergaß selbst Fock nicht.
«Also, Winter, das wird mir jetzt zu bunt. Was hat denn nun der Olsberg mit der Sache zu tun? – Ach, natürlich, ich weiß! Der war der zweite geheuerte Killer! Dieser Lebensversicherungsbetrüger, der sich gegenüber der Sabrina Vogel Sumathi genannt hat, der sucht sich halt die richtigen Leute für seine dreckigen Morde aus. Einmal einen zigfach vorbestraften russlanddeutschen Drogensüchtigen, das nächste Mal einen gerade aus dem Knast entlassenen
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