Schattenhaus
abgeschlossen hatte und auf wen, dann klärt sich schon, wer der Sumathi ist. Wenn wir ihn sicher identifiziert haben, können wir untersuchen, ob der Täter auch etwas mit dieser Pilzgiftgeschichte zu tun hat. Das ist am ökonomischsten. Und in der Grafton-Sache wird dann doch der Professor selbst der Täter sein, oder er war eben das Ziel des Anschlags, Sie haben ja diese Liste mit möglichen Feinden des Professors aus der Uni. Die müssen Sie jetzt mal zügig durcharbeiten, ob sich da was ergibt.»
Winter seufzte. Er hätte das ganz anders angefangen. Er hätte sich sofort Sarnau geschnappt, dessen Praxis und Privaträume durchsucht und außerdem bei dem Pilzvergiftungsopfer Feldkamp sowie der Putzhilfe Frau Tamm das soziale Umfeld durchforstet. Aber er war froh, dass Fock «Sumathi» jetzt ernst nahm und dass er ihm gerade wieder wohlgesinnt war. Das wollte er sich nicht verderben.
Als Winter durchs Vorzimmer ging, flüsterte Hildchen: «Hast du ihm gratuliert?»
«Weshalb?», flüsterte Winter zurück. «Ach ja, die Blumen. Wofür waren die?»
Hildchen machte ein amüsiertes Gesicht. «Das ist mal wieder typisch Andi. Du kriegst nichts mit, was nicht mit deinen Fällen zu tun hat. Dabei hast du den Blumenstrauß selbst mitbezahlt. Also, Fock ist nach vielen gefährlichen Schwangerschaftskomplikationen gestern stolzer Opa eines gesunden Jungen geworden. Tochter ist unverheiratet, ein Vater existiert nicht, Tochter ist auch immer noch nicht gesund, das alles bitte nicht ansprechen, aber komm, geh noch mal rein und gratulier ihm.»
Den guten Rat befolgte Winter gern.
***
Eigentlich rechnete Andrea nicht damit. Aber keine Woche nachdem sie ihren Brief beim Jugendamt abgegeben hatte, mit der Bitte, ihn an Merle Vogel weiterzuleiten, hatte sie schon eine Antwort im Briefkasten. Der Umschlag war dick gefüllt und ungeschickt zugeklebt, so als hätte das Kind es selbst getan.
Andrea öffnete den Umschlag noch auf der Treppe. Sie war ganz aufgeregt, so wie mit sechzehn, als sie ihren ersten Liebesbrief bekam.
Im Umschlag steckte ein ungeschickt gefaltetes, dickes Din-A 4 -Blatt, das aussah wie aus einem Malblock gerissen. Andrea klappte es auf. Das Blatt war hinten und vorne in großer ungelenker Kinderschrift beschrieben und an vielen Stellen mit Buntstift-Blümchen und -Schnörkeln in Gelb, Orange und Rosa verziert. Gott, wie süß, dachte Andrea.
Oben in ihrer Wohnung angekommen, setzte sie sich mit dem Brief in den Schaukelstuhl.
Hallo Andrea!
Ich habe mich ganz doll gefreut ich weiß auch wer du bist. Du bist so lieb.
Ich habe auch eine kleine Schwester sie heist Wolke. Wir sind nicht bei unserer Mami. Unsere Mami die hat jemand erschossen das ist schon lange her schon ein halbes Jahr. Unsere Oma ist in Allmenrod aber da dürfen wir nicht hin. Wir sind hier in ein Heim da waren wir schon mal das heist Sonnenhof aber es ist nicht schön. Die Wolke ist immer traurig. Ich auch aber die Wolke noch viel mehr. Sie hat immer Angst. Hier gibt es zwei große Jungens einer heist Marwin und einer heist Hassan die verkloppen uns oft oder dann ärgern sie uns. Und dann gibt es auch den Herr Schneider vor dem haben wir Angst. Wir dürfen nicht zusammen im Bett liegen dabei hat die Wolke Angst alleine. Ein Kompjuter haben wir hier nicht und auch keine Bücher nur ganz wenige. Ich will gerne über Pferde lesen und auch über Indianer wie kleiner Bruder Watomi und Urmel und Wolke mag den Grüffelo weil sie noch klein ist. Kannst du uns ein Buch schicken? Das wär ganz schön. Ich schicke es auch wieder zurück.
Deine Merle
PS
Das ist mein erster Brief den ich schreibe. Deshalb sei nicht böse wenn es dir nicht gefällt ich muss noch üben.
Andrea hatte Tränen in den Augen. Sie hielt den Brief lange in der Hand. Gegen sechs kam, wie freitags üblich, Ulli wieder von der Arbeit direkt zu ihr. Statt in die Küche holte Andrea ihre Freundin ins große Zimmer, wo sie mit dem Brief gesessen hatte, und gab ihn ihr. Ulli nahm ihn, setzte sich zum Lesen aufs Sofa. Als sie fertig war, sagte sie: «O mein Gott, das ist ja herzzerreißend. Die Mutter erschossen. Unvorstellbar. Kein Wunder, dass das Kind eine neue Mami sucht.»
Andrea sah ihr eindringlich in die Augen und schwieg.
«Ach, ich ahne», sagte Ulli nach einem Moment. «Oh-oh. Du denkst, dass wir die Kinder adoptieren sollten.»
«Ich habe das Gefühl, das Schicksal will es so», sagte Andrea nervös. Sie spürte schon Enttäuschung, weil sie herauszuhören
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