Schattenhaus
allein, ohne Kollegen. Vorsichtshalber ließ er allerdings einen Streifenwagen in der Nähe des Hauses von Birthe Feldkamp positionieren. Er traute Matthias Olsberg in keinster Weise.
«Ich habe geahnt, dass wir uns noch mal wiedersehen», begrüßte Olsberg ihn auf der Schwelle. Winter spürte sofort wieder den oberflächlichen, kühlen Charme, der von dem schlanken jungen Mann ausging, ein Charme, von dem er wusste, dass ihm nicht zu trauen war.
«Wir sind uns neulich in der Uni begegnet, oder?», fragte Winter.
«Stimmt», sagte Olsberg mit dem Hauch eines Lächelns. «Ich war mir aber nicht ganz sicher; das alles ist sehr lange her.»
Olsberg führte Winter nicht ins Wohnzimmer, sondern in die Küche, also einen der Räume des Hauses, die er laut Mietvertrag benutzen durfte. Will er mir vorführen, wie geläutert und korrekt er ist?, fragte sich Winter.
«Sie studieren?», fragte er laut.
Olsberg nickte, während er Wasser aufsetzte. «Ich habe in der JVA erst den Hauptschulabschluss und dann per Fernkurs das Abi nachgemacht», erläuterte er. «Das Studium habe ich schon letztes Jahr als Freigänger angefangen.»
«Stramme Leistung», lobte Winter. Aha, Olsberg war zum Zeitpunkt des Mordes an Sabrina Vogel bereits auf freiem Fuß gewesen. Allerdings nur tagsüber. Doch wahrscheinlich hatte man einem so privilegierten Häftling zu Weihnachten Hafturlaub gewährt. Das würden sie überprüfen müssen. «Was studieren Sie?», schob Winter nach.
«Mathe und Geschichte auf Lehramt.»
Der verurteilte Mörder eines Jugendlichen wollte Lehrer werden? Unglaublich. Aber was Winter noch unheimlicher war: Genau diese ungewöhnliche Fächerkombination hätte er selbst studiert, wenn es seinerzeit mit der Polizeibewerbung nicht geklappt hätte.
«Lesen hat mich gerettet», verkündete Olsberg, eine Teekanne in der Hand, während Winter mit seinen Gedanken gerade weit weg war.
«Wie meinen Sie das?»
«In der JVA . Und überhaupt. So gesehen hat mich die JVA gerettet. Um das auszuhalten, und mich selber auszuhalten nach dem, was ich getan hatte, brauchte ich einen Ort in meinem Kopf, wohin ich mich zurückziehen konnte. Mit Büchern geht das. Man ist still und konzentriert und kommt zur Ruhe. Die Bücherei in der JVA war nicht besonders, aber auch wenige und schlechte Lektüre ist besser als keine. Und dann habe ich dank dem Tipp eines Beamten die Fernleihe entdeckt. Die anderen haben ihr Taschengeld für Tabak und Koks ausgegeben, ich für Bücher. Ich hab beim Lesen so viel gelernt. Nicht nur im wörtlichen Sinne, auch über Menschen. Wie andere ticken. Dass es nicht nur Egoismus und Angst und Gier und Kampf gibt, sondern auch sehr viel Mitgefühl und Liebe und Solidarität.»
Winter staunte. So viel am Stück hatte der junge Matthias Olsberg vor sechs Jahren in keiner der Vernehmungen geredet. Über eigene Gefühle und Gedanken schon gar nicht. Wollte Olsberg den Polizisten mit dieser pathetischen Geschichte einer geistigen Neugeburt einlullen oder manipulieren? Winter dachte an die Aussage der Bewährungshelferin:
ein intelligenter Psychopath
.
«Warum erzählen Sie mir all das?», fragte er offen. «Oder erzählen Sie das jedem, dem Sie heutzutage begegnen? Quasi zur Vorstellung?»
Olsberg hatte den Tee eingegossen, ohne Winter zu fragen, ob er welchen wolle. Er setzte sich, schwieg einen Moment mit unbewegtem Gesicht. Dann erklärte er: «Ich glaube, ich wollte das gerade Ihnen sagen. Ich hab gemerkt, damals … ich hatte das Gefühl, dass Sie mich beobachten, dass Sie wissen wollen, was in mir vorgeht. Obwohl Sie nicht der Netteste bei den Vernehmungen waren. Aber man hat gemerkt, dass bei Ihnen ein menschliches Interesse dahintersteckt. Ich hab mich vor Ihnen geschämt. Später, als ich die Schule nachgemacht habe, hat mich ein bisschen der Wunsch getrieben, Ihnen zu zeigen, dass mehr in mir steckt als das kranke Ghettokid, als das Sie mich gesehen haben. Deshalb ist es mir ganz recht, dass ich Sie jetzt wiedergetroffen habe und ein bisschen vor Ihnen angeben kann mit dem, was ich geschafft habe.»
«Danke, dass Sie mich der Ehre für wert befinden», sagte Winter und mühte sich, die Ironie nicht zu sehr hören zu lassen. Jetzt war er sicher: Olsberg schmeichelte ihm und wollte ihn manipulieren.
«Danke, dass Sie mich siezen», sagte Olsberg schlicht. Winter hatte keine Ahnung warum, aber diese Worte verkehrten seine erste Einschätzung ins Gegenteil: Jetzt hatte er das Gefühl, der Junge hätte ihn
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