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Schattenhaus

Schattenhaus

Titel: Schattenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Reichenbach
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die Mutter des Geschädigten in Gemeinschaft mit einem jungen Gehilfen.»
    «Was? Ehrlich? Das ist ja unglaublich.»
    «Es war Svens Idee, und einiges spricht dafür. Aber wir müssen noch eine Menge klären, bis das an die Staatsanwaltschaft geht. – Du, Hilal …»
    «Ja?» Sie sah ihn an, Hände in den Taschen. Ihm fielen ihre cremefarbenen Augenlider auf, die ihn zusammen mit den dunklen, leicht vorgewölbten Augen an eine Schokoladensorte denken ließen, die er als Kind gerne gegessen hatte. Café-Crème. Hatte sie so geheißen?
    «Du hast doch die Kinder befragt?», brachte er schließlich heraus.
    «Ja. Die waren sogar eine Nacht und einen halben Tag bei mir zu Hause, bis das Jugendamt sie übernommen hat. Als ich da hinkam und die Kinder sah – du weißt, dass die sich zu der toten Mutter ins Bett verkrochen hatten?»
    «Ja. Entsetzlich für die Kinder, das alles.»
    Sie nickte. «In dem Alter muss es das Schlimmste sein, was passieren kann. Die eigenen Eltern tot und blutüberströmt zu finden. Weißt du, wo die Mädchen jetzt sind?»
    «In einem Heim, leider. Also, Hilal, ich hätte ein paar zusätzliche Fragen an die beiden. Denkst du, es wäre klug, wenn du das machst? Weil sie dich schon kennen?»
    Aksoy überlegte. «Vor allem wäre es bestimmt gut, wenn ich sie für die Vernehmung abhole. Damit sie nicht mit einem Fremden mitmüssen. Die Befragung kann dann auch die Spezialistin machen oder du, aber es würde die beiden sicher beruhigen, wenn ich mit dabei wäre. Die waren damals derart verstört … die Kleine hielt sich dauernd an der Großen fest. Sie wollten bei mir dann unbedingt in einem Bett schlafen. Und alle beide haben in der Nacht in die Hosen gemacht.»
    «Schlimm. Also, ich organisiere das.»
    «Okay. Dann bis bald.»
    «Bis bald.»
    Winter hatte das dringende Bedürfnis, Aksoy zum Abschied zu berühren, und sei es mit Handschlag. Aber er beherrschte sich.
    ***

Am folgenden Tag, nachmittags um drei, betrat Birthe Feldkamp die Vorhalle der Frankfurter Universitätsbibliothek an der Bockenheimer Warte. Ihr Herz begann zu flattern, als sie die Person, die sie suchte, zwischen anderen an einem langen Tisch entdeckte. Zuerst bemerkte der Mann sie nicht, und sie hatte Muße, ihn unbemerkt zu beobachten: Das dunkle, kurzgeschnittene Haar, das seinen Kopf wie ein Samtüberzug bedeckte, die fein gezeichneten Brauen, die gerade Nase, der sensible Mund über dem geschwungenen Kinn. Er saß konzentriert über ein großformatiges Buch gebeugt, die Arme aufgestützt. Es war das erste Mal, dass Birthe Matthias außerhalb von Gefängnismauern sah. Zwar war er schon seit Monaten Freigänger. Doch der Freigang war ihm nur für den Besuch der Universität gewährt worden, und er nutzte ihn auch nur dafür. Heute aber war ein besonderer Tag, ihr Geburtstag. Matthias hatte sie per Brief, ihrer üblichen Kommunikationsweise, gefragt, ob er ihr ein kleines Geschenk überreichen könne. Falls sie Zeit habe, er sei an ihrem Geburtstag zwischen vierzehn und sechzehn Uhr in der Unibibliothek am Campus Bockenheim. Er werde in der Eingangshalle sitzen und auf sie warten. Und hier saß er auch, perfekt zuverlässig.
    Sobald Birthe gezielt auf den zehn Meter langen, mit lesenden oder Kaffee trinkenden Studenten besetzten Tisch zuging, sah Matthias auf und entdeckte sie. Als seine Augen ihre trafen, kitzelte es ihr im Bauch wie in der Achterbahn.
    Matthias stand auf, ging zwei Schritte auf sie zu und tat etwas, was er bei ihren Besuchen im Knast nie getan hatte: Er umarmte sie. Locker, freundschaftlich. Er roch aufregend gut. Birthe wünschte sich, die Umarmung würde ewig andauern, doch sie war sofort wieder vorbei. Matthias überreichte ihr ein kleines weiches Päckchen, professionell verpackt in Geschenkpapier. «Herzlichen Glückwunsch. Ich hoffe, es gefällt dir.» Sie friemelte die Verpackung auf. Das Geschenk erwies sich als Schal, in einem zarten, luftigen Strickmuster, lindgrün, das Schild mit einem italienischen Firmennamen versprach hundert Prozent Merinowolle. Billig war der nicht gewesen. Birthe war gerührt und geschmeichelt, bedankte sich überschwänglich, obwohl ihr die Farbe nicht gefiel (warum glaubten alle Leute, dass Rothaarigen Grün stand?), und nutzte den Dank für eine weitere Umarmung. «Nein», sagte Matthias, «ich muss dir danken. Du hast keine Ahnung, wie wichtig deine Unterstützung für mich war.» Birthe hörte das beglückt, bis ihr die Vergangenheitsform auffiel:
War?
Nicht
ist
?

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