Schattenhaus
Unsinn, so hatte er das nicht gemeint. Es dauerte ohnehin noch fast ein halbes Jahr bis zu seiner Haftentlassung. Birthe piesackten in letzter Zeit Zweifel, ob er sie danach noch brauchen würde. Würde er den Kontakt mit ihr einschlafen lassen, sobald er ein freier Mann war?
Sie hatte Matthias über eine Gefangeneninitiative im Internet kennengelernt. Erst hatte sie ihm bloß ein Abo bezahlt, dann begann ein Briefwechsel. Eigentlich wusste sie seit seinem ersten Brief, dass dies mehr werden würde als nur ein flüchtiger Kontakt. Matthias war offensichtlich intelligent und sensibel; nur eine übel verkorkste Kindheit und Jugend konnten ihn in den Knast gebracht haben. Der Klassiker: drogenabhängige Mutter, frühe Heimaufenthalte, schlechte Gesellschaft. Jetzt war er alt genug, sein Leben in Ordnung zu bringen. Als sie ihn damals kennenlernte, steckte er mitten in Prüfungsvorbereitungen. Er nutzte nämlich die Haft, um sein Abi nachzumachen. Sie war der stabilisierende Einfluss, den er brauchte. Eine Art mütterliche Helferin. So sagte sie sich zunächst, denn sie war sieben Jahre älter als er, und sie hatte eine pädagogische Ausbildung. Doch als sie ihn zum ersten Mal in der JVA persönlich sah, meldeten sich sehr schnell alles andere als mütterliche Instinkte.
Das war jetzt ein Jahr her. Ein Jahr, in dem sie jeden Abend, jede Nacht von Gedanken an Matthias verfolgt wurde, von einem Begehren, das nie erfüllt und nie angesprochen wurde.
Jetzt wagte sie es einfach. Heute, wo kein Aufsichtsbeamter dabei war, vor dem sie sich blamieren konnte. Wagte es zumindest ein bisschen.
«Übrigens, Matthias. Was ich dir noch sagen wollte. Ich hab ein Haus, fünf Zimmer, da wohne ich ganz alleine. Wenn du rauskommst und nicht weißt, wohin: Du kannst gerne bei mir einziehen. Ich wollte nur, dass du das weißt.»
Er sah für den Bruchteil einer Sekunde drein, als ob ihm dieses Ansinnen lästig sei. Sofort verschwand der Ausdruck wieder. Matthias bedankte sich für das Angebot, ohne jedoch anzudeuten, ob er es anzunehmen gedenke. Sie sprachen nun nicht mehr lange. Birthes Stimmung war schlagartig im Keller. Und Matthias warf Blicke auf seine Bücher, so als ob sie ihn von der Arbeit abhalte.
Draußen blieb Birthe einen Augenblick allein auf dem Bibliotheksvorplatz stehen, ließ sich den kalten Januarwind um die Nase wehen. Gegenüber auf der anderen Seite der Bockenheimer Landstraße lag der alte Unicampus. Birthe hatte dort studiert. Es erschien ihr unglaublich, dass die meisten Gebäude hier abgerissen werden sollten, um schnöden Büroflächen Platz zu machen. Das Senckenbergmuseum würde als fast einziges Relikt alter Zeiten zurückbleiben, ohne die herrlichen Säulengänge, die das Museum mit den altehrwürdigen naturwissenschaftlichen Instituten nebenan verbanden und die entlang der Senckenberganlage die Fassaden prägten.
Birthe drückte den weichen grünen Schal ans Gesicht wie ein Kind seine Kuscheldecke. Ihr Leben schien ihr mit einem Mal unerträglich einsam. Die Freunde aus der Studienzeit hatten sich in alle Welt zerstreut. Eine Beziehung zu einem Mann hatte sie seit fünf Jahren nicht gehabt. Ihre Aktivitäten in der Gefangenenhilfe und bei Amnesty waren nichts weiter als der verzweifelte Versuch, der Stille ihres Hauses zu entgehen. Leider gab es bei Amnesty fast nur Frauen. Genau wie im Kollegium der Schule für praktisch Bildbare, an der sie arbeitete.
Birthe marschierte Richtung Haltestelle Dantestraße los, um noch ein paar Schritte an der Luft zu tun. Es musste sich etwas ändern. Bald. Sie wollte nicht mehr allein leben. Entweder ein Mann musste her oder ein Kind oder am besten beides. Zur Not eben ein Kind per Samenspende, wenn sich gar niemand bereitfand. Die Männer waren heutzutage derart feige, die taten alles, um Verpflichtungen und der Verantwortung für ein Kind zu entgehen. Jedenfalls die attraktiven. Und von einem unattraktiven wollte sie keines. Zum Beispiel der Mann von Sabrina, vielen herzlichen Dank, für sie wäre der nichts.
***
Winter hatte zur selben Zeit Janine Paulus vor sich auf dem Bildschirm, die kanadische Freundin von Sabrina Vogel. Jene, die am zweiten Weihnachtstag bei Vogels angerufen hatte und dann von der kleinen Tochter zu hören bekam, ihre Mutter sei erschossen worden. Paulus saß während des Videogesprächs auf einer lauten Polizeiwache in einem Ort namens Thunder Bay, Ontario, von dem Winter noch nie gehört hatte. Sie versicherte ihm, der Ort sei paradiesisch
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