Schattenhaus
schön. In dem schlechten Licht der Computerkamera wirkte ihr Gesicht grün und geisterhaft. Ansonsten sah die Zeugin aus wie eine durchschnittliche junge Frau um die dreißig, hellbraune Haare, ovales Gesicht, nettes Lachen, das ein offenes, umgängliches Wesen versprach. Winter stellte ein paar Vorfühlfragen, erfuhr, dass es Janine Paulus einst als Au-pair-Mädchen nach Thunder Bay verschlagen hatte. Damals hatte sie sofort gewusst, dass sie nie wieder wegwollte. Inzwischen war sie mit einem Einheimischen verheiratet, dessen Namen sie auch trug, und befand sich im vorletzten Jahr eines Medizinstudiums. Sie und Sabrina Vogel kannten sich aus der gemeinsamen Gymnasialzeit in Lauterbach im Vogelsberg. Das wusste Winter schon von den allerersten Akteneinträgen, die noch vom Kriminaldauerdienst stammten. Von Kollegin Aksoy, um genau zu sein.
Winters erste fallrelevante Frage an Janine Paulus war sehr allgemein gehalten:
«Ist Ihres Wissens im Laufe des letzten Jahres irgendetwas Ungewöhnliches oder Erzählenswertes in Sabrina Vogels Leben vorgefallen?»
Die grünliche junge Frau auf dem Schirm sah ihn mit leicht erhobenen Brauen an.
«Sie meinen, außer der Tatsache, dass Sabrina einen Hirntumor hatte und wusste, dass sie sterben würde?»
«Was?», platzte Winter heraus. Er dachte, er höre nicht recht. «Frau Vogel hatte einen Hirntumor?»
«Aber das habe ich doch Ihrem Kollegen schon beim letzten Mal gesagt.»
«Welchem Kollegen?»
«Männlich, lockige Haare, Halbglatze, Brille mit schwarzem Rand. Namen weiß ich nicht mehr.»
Natürlich. Winter versuchte, aufschäumenden Ärger über Sven Kettler zu unterdrücken und sich auf die Befragung zu konzentrieren.
«Leider müssen Sie mir das alles noch einmal berichten. Seit wann wusste Frau Vogel von der Diagnose?»
«Seit dem Sommer. Sie war bei Ihren Eltern die Treppe runtergefallen und hatte danach heftige Kopfschmerzen bekommen. In Fulda im Krankenhaus haben sie eine Tomographie gemacht, um eine Hirnblutung auszuschließen. Dabei wurde ein Glioblastom entdeckt. Also ein bösartiger Hirntumor. Rein zufällig. Die Kopfschmerzen waren von der Gehirnerschütterung und hatten damit gar nichts zu tun. Die haben ihr im Krankenhaus dann klipp und klar gesagt: ‹Sie haben noch ungefähr zwei Jahre zu leben.› Der Schock muss furchtbar gewesen sein.»
Winter war ebenfalls schockiert.
«Gibt es denn gar keine Behandlungsmöglichkeit? Soweit Sie als Medizinerin wissen?»
«Doch, sicher. Operation, Chemo, Strahlung. Das bringt bloß alles wenig. Man lebt vielleicht ein paar Monate länger. Das Glioblastom ist wirklich sehr bösartig. Weg bekommt man das nicht. Ich habe Sabrina aber geschrieben, du bist noch jung, es ist viel früher entdeckt worden als bei den meisten, du bist noch symptomfrei, bei dir kann es noch viele Jahre gutgehen.»
«Wie ist denn Frau Vogel mit der Diagnose fertiggeworden?»
«Gefasst und fatalistisch, hatte ich den Eindruck. ‹Man lebt, solange man lebt, man verlässt diese Welt, wenn die Zeit gekommen ist›, hat sie geschrieben.»
«War sie religiös?»
«Nicht im klassischen Sinne. Also, nicht christlich. Aber sie hatte so eine esoterische Tendenz.»
«Gehörte sie einer bestimmten Bewegung an? Gab es eine Gruppe, die sie regelmäßig besuchte?» Winter hoffte auf neue Namen, eine neue Spur.
«Ich glaube nicht. Ich weiß allerdings nicht, ob sie mir das erzählt hätte. Sabrina wusste, dass ich von diesem ganzen New-Age-Mumpitz nichts halte.»
«Wann hatten Sie denn zuletzt von ihr gehört?»
«Da müsste ich nachsehen. Ende November wahrscheinlich. Ehrlich gesagt hatten wir nicht mehr so viel Kontakt. Aber ich habe ihr öfter geschrieben, seit ich wusste, dass sie den Tumor hat.»
«Das lief über E-Mail?»
«Ja. Sabrina mochte es nicht, wenn man sie anrief. Es schien ihr immer ungelegen zu kommen. Also habe ich meistens gemailt. Bloß diese Weihnachten … Aber das wissen Sie ja.»
«Frau Paulus, haben Sie irgendeine Ahnung, wer Frau Vogel und ihren Mann umgebracht haben könnte?»
«Nicht die geringste. Es waren doch sicher Einbrecher? Irgendeine osteuropäische Bande?»
«Wir vermuten eher, dass es jemand war, der die Familie gut kannte. Können Sie mir weitere Kontaktpersonen nennen, Freunde oder Bekannte von Sabrina?»
«Puh. Ehrlich gesagt, nein. Sabrina lebte ganz für ihren Mann und ihre Kinder. Die einzige andere Person, von der sie mal erzählt hat, ist eine jüngere portugiesische Kollegin aus dem
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