Schattenhaus
defensiv da. «Ach, tatsächlich?», sagte sie trocken. «An meinen fachlichen Qualitäten kann es ja wohl kaum liegen. Du hast Fock gesagt, dass du mich für eine unfähige Polizistin hältst.»
Winter stöhnte. «Hilal, ich schwöre dir, ich kann mich an nichts dergleichen erinnern. Sollte ich zu Fock wirklich was Negatives über dich gesagt haben, dann war das, bevor ich dich richtig kannte. Vielleicht letzten Sommer, als wir uns bei der Feier so in die Haare bekommen haben. Falls du dich daran noch erinnerst.»
«O ja, das tue ich», sagte sie mit einem leichten Grinsen.
Winter seufzte. «Ich brauch dir nicht zu sagen, dass mir mein Benehmen bei diesem Sommerfest heute verdammt peinlich ist. Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen, dass ich ziemlich betrunken war.»
«Wozu du auf Festen wohl neigst», sagte sie verschmitzt. «Doch wie man weiß,
in vino veritas
.»
Winter dachte an die letzte Weihnachtsfeier und versuchte, nicht rot zu werden. «Hattest du Latein in der Schule?», fragte er, um abzulenken.
«Ja», sagte sie, «hat mir übrigens Spaß gemacht. Ist so ähnlich wie Türkisch.»
«Was? Latein ist so ähnlich wie Türkisch?»
«Genau, auch wenn du dir das nicht vorstellen kannst.» Ihr Ton wurde wieder feindselig. Sie nahm endlich die verschränkten Arme herunter, steckte die Hände in die Hosentaschen. «Okay, Andi. Beenden wir das jetzt. Ich war gerade drei Wochen sauer auf dich und hab mir gesagt, ich werde dir nie wieder vertrauen. Ich weiß nicht, ob ich davon so schnell wieder runterkomme.»
«Hilal …», sagte Winter und streckte unwillkürlich die Hand nach ihr aus.
«Stopp», sagte sie, schob seinen Arm zurück und verschwand flink und ohne ein weiteres Wort in ihrem Büro.
Winter stöhnte, lehnte sich gegen die Wand. Auf genau diese bittersüße Art unglücklich war er wahrscheinlich nicht mehr gewesen, seit er achtzehn war.
***
Bei der Webdesignerin Andrea Vogel klingelte das Telefon. «Vogel, Webbits-Internetagentur», meldete sie sich.
«Hallo», fiepte auf der anderen Seite eine Kinderstimme. «Ich bin die Merle. Bist du die Andrea?»
«Ja.» Andrea Vogel war verwirrt bis belustigt. Sie kannte kein kleines Mädchen namens Merle. «Warum hast du denn bei mir angerufen?», fragte sie freundlich.
«Du hörst dich lieb an», reagierte das Kind. Dann begann es zu flüstern: «Pssst! Das darf jetzt niemand hören. Ich hab der einen Lehrerin gesagt, ich ruf meine Mutter an, damit sie mich abholt. Bloß, das stimmt gar nicht. Ich hab einfach dich angerufen. Hast du Kinder?»
«Nein, leider nicht», lachte Andrea Vogel, die sehr gerne welche gehabt hätte.
«Wohnst du ganz alleine?», fragte das Mädchen weiter.
«Ja, tu ich.»
«Ich mag gern Bücher angucken und Blockflöte spielen und am Computer spielen, und bei Plätzchen mag ich Vanillekipferl am liebsten. Und du?»
Andrea lachte. «Ich mag das alles auch», sagte sie wahrheitsgemäß, obwohl sie die Blockflöte schon vor Jahrzehnten gegen eine Querflöte eingetauscht hatte.
«Oh, nein, sie kommt», flüsterte Merle heimlichtuerisch. «Tschüs, Andrea!»
Man ahnte, wie dem Mädchen der Hörer unsanft entrissen wurde. «Hallo?», sagte eine schroffe junge Frauenstimme. «Sind Sie die Mutter von der Merle?»
«Nein, ehrlich gesagt kenne ich das Mädchen gar nicht. Das ist ja eine ganz Süße.»
«Von wegen. Die hat es faustdick hinter den Ohren. Die hat mich eben angelogen. Tut so altklug, aber erzählt Lügengeschichten. Sie kennen die Merle wirklich überhaupt gar nicht? Merle Vogel? Jedenfalls behauptet sie, dass sie so heißt. Sie hat im Telefonbuch auf Ihren Namen gezeigt.»
«Nein, ich kenne sie leider nicht.»
«Verdammt, dann weiß ich jetzt nicht weiter. Ich bin Studentin und mach hier die Malstunde in einem Kinder-Ferienprogramm bei der Gemeinde. Um vier ist eigentlich Schluss, die anderen sind schon alle weg, und sie taucht plötzlich von irgendwoher auf und sagt mir, sie kennt den Weg nach Hause nicht, und ihre Mutter sei nicht gekommen, sie abzuholen, und angeblich weiß sie die Telefonnummer von ihrer Mutter nicht, und ich finde sie in keiner Kartei. Keine Ahnung, wie lange ich jetzt noch hierbleiben muss. Okay, Entschuldigung noch mal, und auf Wiederhören.»
Andrea war noch ganz in Gedanken über den seltsamen Vorfall, da klingelte es schon wieder. Sie hob ab. «Hallo, Andrea», flüsterte es vom anderen Ende. «Hallo, Merle», sagte Andrea und lachte.
«Psst, wir müssen ganz leise sein, sonst
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