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Schattenhaus

Schattenhaus

Titel: Schattenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Reichenbach
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Erinnerungen mischten sich mit welchen aus der Vergangenheit. Er hatte dem Kommissar fast ihr ganzes Leben erzählt, damit der Polizist verstehen konnte, was mit André geschehen war.
    Welche Hoffnungen hatten sie gehabt! Welche Ziele! Nicht einmal die Erinnerungen waren jetzt mehr etwas wert. Es war, als ob alles von Anfang an nur auf den Tag hingestrebt hatte, an dem André auf Todes Schwelle in diesem Bett lag. Sogar die Geschichte ihres ersten Dinosauriers hatte ihre Unschuld verloren. Mit acht Jahren hatten sie den ausgegraben. In Wahrheit handelte es sich um die Überreste eines mittelalterlichen Rindes. Doch das tat ihrem Enthusiasmus keinen Abbruch. An Sommernachmittagen unternahmen sie weite Streifzüge um ihren Heimatort Haßfurt, sammelten jeden ungewöhnlich aussehenden Stein, suchten an Baustellen nach Schichtenfolgen, in den Kieseln von Bachbetten nach Kleinfossilien. Im Muschelkalk bei Marktsteinach entdeckten sie, als sie vierzehn waren, ein rares Fossil, den Schädel eines Nothosauriers, den sie mit Zahnarztbesteck und Pinseln sorgfältig herauspräparierten. In ihren Bücherregalen sammelten sie geologische Fachliteratur.
    Mit sechzehn, siebzehn begannen die Versuche, sich bekleidungstechnisch vom anderen abzusetzen, von Mädchen als Individuum, nicht als ein Bründl-Zwilling wahrgenommen zu werden. Die Eltern planten für die Zwillinge, sie sollten gemeinsam in Bamberg studieren, Geographie und Mathematik auf Lehramt, gemeinsam die Woche über ein Zimmer bewohnen, an den Wochenenden nach Hause kommen. Die Jungen sagten dazu nicht viel. Aber unterschwellig war ihnen beiden klar, sie wollten nicht weiterhin im Doppelpack durchs Leben gehen. Mark, der dominante Zwilling, tat ohne Absprache den ersten Schritt: Er schrieb sich direkt nach dem Abi für Geologie ein, in Frankfurt am Main. André tat den zweiten: Er entschied sich für Bamberg und für Archäologie und Frühgeschichte, zum Schrecken der Eltern, die das als brotlose Kunst abtaten, während sie die Zukunft eines Diplom-Geologen bei Öl- und Bergbaufirmen im Ausland halbwegs gesichert wähnten.
    André war derjenige, der mit der schmerzhaften, doch zugleich befreienden Trennung vom Zwillingsbruder besser zurechtkam. Sein Selbstbewusstsein schoss in nie gekannte Höhen, seit er aus dem Schatten des Bruders getreten war. Er konzentrierte sich zielstrebig auf das Studium, fand eine gleichgesinnte Freundin, jede Semesterferien ging es auf Grabung, was selten komfortabel, aber immer abenteuerlich war. Mark dagegen litt in Frankfurt. Jahrelang war er desorientiert, verbrachte viel Zeit mit fruchtlosen Diskussionen in der studentischen Selbstverwaltung, jobbte hier und da, aber schlampte im Studium, weil er aufgrund seiner Vorkenntnisse anfangs unterfordert war und lange nicht merkte, dass die anderen ihn längst überholt hatten. Am Ende des dritten Jahres zog er die Reißleine, fing noch einmal von vorne an, erstaunte die Dozenten mit seinem Fleiß, aber hatte das Pech, dass gerade jetzt die gesamte Frankfurter Studienstruktur umgekrempelt wurde. Bei all diesen Widrigkeiten hatte er eben gerade erst sein Examen bestanden, dies jedoch mit Bestnoten.
    André dagegen hatte in Bamberg vor drei Jahren schon einen Einser-Abschluss hingelegt. Sein Name stand ganz vorn in der Autorenliste zweier wissenschaftlicher Veröffentlichungen in renommierten Zeitschriften. Alle waren sicher, dass er eine Uni-Karriere als Archäologe vor sich hatte. Ein Zufallsfund in der Lausitz lieferte ein prächtiges Doktorarbeitsthema, mit dem er sich endgültig einen Namen machen konnte. Mark beneidete ihn. Zudem brachte der Fund André in Kontakt mit dem prominenten Archäologen Lord Grafton. Der große Grafton erklärte sich bereit, André als Doktorand anzunehmen und gab ihm sogar zwei allerdings bescheiden bezahlte Lehraufträge. André behielt sein billiges Zimmer in Bamberg und kroch an den Wochentagen, an denen er in Frankfurt sein musste, bei Mark unter. Beide Brüder waren glücklich über das Arrangement.
    Und dann war vor drei Monaten diese Katastrophe passiert. André war von der Präsentation seiner nunmehr fertigen Doktorarbeit in desolatem Zustand zurückgekommen: Die Arbeit sei von Grafton mit der Note «sechs» bewertet worden.
    Das war zweifellos unfair und absolut unerwartet. André war leichenblass und konnte das Geschehene nicht akzeptieren. Er brodelte vor negativer Energie, unterstellte, dass etwas mit der Kontrolldatierung der Funde nicht in Ordnung

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