Schattenhaus
sei, die Grafton in Oxford eingeholt hatte.
Während André an einem ellenlangen Beschwerdebrief über Grafton feilte, den er ans Dekanat schicken wollte, versuchte Mark, auf konstruktive Weise zu helfen. Mark kannte die Doktorarbeit seines Bruders. Er war der Ansicht, dass André einfach nur das Kapitel mit der falschen Datierung herausstreichen und die Arbeit dann bei einem anderen Professor neu einreichen müsse, um zu seinem wohlverdienten Doktortitel zu kommen.
Doch es stellte sich heraus: Dem war nicht so. Mark sprach als André beim Prüfungsamt vor und erfuhr: Der zweite Gutachter der Frankfurter Promotionskommission hatte sich Graftons Bewertung angeschlossen. Die Arbeit sei «wegen grundlegender methodischer Mängel und absurder Schlussfolgerungen» nicht zur Promotion zuzulassen. Eine in Frankfurt offiziell abgelehnte Dissertation aber könne weder in Frankfurt noch bei anderen Universitäten ein weiteres Mal eingereicht werden.
Mark kamen nun Zweifel. War die Arbeit seines Bruders vielleicht doch schlechter, als es ihm vorgekommen war?
Desto fanatischer allerdings wurde André in seinem Gefühl, zutiefst ungerecht behandelt worden zu sein. Er rief sogar bei dem C- 14 -Labor in Oxford an, wollte wissen, ob dort von Grafton tatsächlich Proben aus der Lausitzer Fundstätte datiert wurden. Er wurde beschieden, aus datenschutzrechtlichen Gründen könne man keine Auskunft über Auftragsarbeiten für Privatkunden geben.
Andrés Beschwerdebrief ans Dekanat wirkte, als er nach Tagen endlich fertig war, ein wenig pedantisch und hysterisch. Alles, was ihm in den letzten Jahren an Grafton negativ aufgefallen war, schilderte er minuziös: die gutsherrliche Art, mit der der Professor Funde als Privateigentum betrachtete und zu Hause aufbewahrte, seine Willkür gegenüber Studenten und Mitarbeitern, die Überbewertung der nach Andrés Ansicht schwachen Forschungsleistungen seiner Lieblinge, Graftons fachlich niveaulosen, geschwätzigen Unterricht und schließlich die Weigerung, die Eichdaten des Datierungsgeräts an einen Doktoranden seines Institutes herauszugeben, der diese brauchte.
Dem Brief legte André eine Kopie seiner Dissertation bei, weil er glaubte, jeder müsse auf den ersten Blick sehen, dass die Arbeit mit «ungenügend» falsch bewertet sei.
Mark war nicht überrascht über die Antwort, die postwendend eintraf.
Sehr geehrter Herr Bründl,
es tut uns leid, dass Sie bei Ihrer Prüfung nicht erfolgreich waren. Betreffs Ihrer Beschwerden müssen wir Ihnen leider sagen, dass es an der Universität häufiger zu Konflikten kommt und dass nicht jeder Student mit jedem Dozenten «kann». Wir raten Ihnen, sich zur Verarbeitung des Misserfolgs an den psychologischen Dienst der Universität zu wenden.
Mit freundlichen Grüßen
André packte nach der Lektüre des Briefs seine Tasche, reiste wortlos nach Bamberg ab, in eine nunmehr verdüsterte Zukunft. In den folgenden Wochen nahm er einen Job als Fensterputzer an, bewarb sich vergeblich auf Doktorandenstellen, schickte eine Kurzfassung seiner Doktorarbeit zur Veröffentlichung an Fachzeitschriften. Letztere baten allesamt Grafton als Rautenkeramik-Experten um eine Stellungnahme und lehnten höflich ab. Andrés Freundin verließ ihn und zog mit einem jungen Lehrer zusammen.
Nach der Desertion der Freundin wurden für André die Rachegelüste gegenüber Grafton zur Obsession. So sah es jedenfalls Mark, der es krank fand, dass sein Bruder sich in jeder freien Minute mit Grafton beschäftigte, getrieben vom Ziel, dem Mann etwas anzuhängen. Etwas, was den Professor derart diskreditieren würde, dass die Frankfurter Universitätsleitung nicht mehr die Augen verschließen konnte.
Im Juni rief André unter Triumphgeheul an und berichtete, es gebe im britischen Adelsregister keinen Viscount Grafton of Blaby. Außerdem tauche der gänzlich nichtadelige Name Bertram Grafton im Internet als ehemaliger Schüler einer niedersächsischen Realschule auf. «Du meinst, dieser Adelstitel ist ein Fake?», fragte Mark.
«Genau das glaube ich», sagte André. «Und nicht nur das. Er will doch in Oxford studiert haben. Auf der Liste der Alumni steht er aber nicht. Und diese Oxford Policy Foundation, von der er Vorsitzender ist, die hat mit der Uni Oxford nichts zu tun und scheint sein Privatverein zu sein. Es kann ja jeder irgendwas gründen, das Oxford im Titel hat. Der Name Oxford ist nicht geschützt. Mark, ich bin da einer großen Sache auf der Spur. Der Mann ist von
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