Schattenhaus
Bründl in elendem Ton.
«Ja. Wie viele wollen Sie denn, zwei?»
«Ich meinte, nicht für den Kaffee. So, zum Lutschen. Ich hab heut kaum was gegessen.»
Winter brachte dem jungen Mann die Zuckerdose, eine Untertasse und ein Minipäckchen Kartoffelchips. Die Letzteren waren sein eigenes Doping, wenn er zu richtigem Essen nicht kam.
«Danke.»
Winter setzte sich hinter den Schreibtisch, fuhr den Rechner hoch. «Jetzt müssen wir Tacheles reden.»
«Ich hab niemanden umgebracht.»
«Zumindest waren Sie unbewaffnet, was für Sie spricht. Deshalb vernehme ich Sie jetzt erst mal nur als Zeugen. Haben Sie Ihren Ausweis dabei?»
«Den Perso?» Der Fremde holte eine schwarze Ledergeldbörse hervor, zog den Personalausweis heraus. Winter notierte sich die Daten. Die unheimliche Ähnlichkeit zu dem Verletzten im Krankenhaus stach auf dem Foto erneut ins Auge.
Nachdem Winter den Personalausweis zurückgegeben und die Belehrung gemacht hatte, rief er auf seinem Handy das Foto auf, das Kollege Musso aus dem Krankenhaus geschickt hatte. Ohne weitere Vorwarnung hielt er Bründl das Bild vor die Nase. Dieselbe Aknehaut, dieselben tiefliegenden braunen Augen und höckrige Nase, derselbe weiche Zug um den Mund.
«Sind Sie das?»
Bründl sog vernehmlich die Luft ein. «O nein!», rief er. «Was ist passiert? Bitte, er ist doch nicht tot?»
«Nein, aber schwer verletzt. Soweit ich weiß, liegt er im Koma. Wer ist das? So, wie es aussieht, Ihr Bruder?»
Bründl ließ sich nach hinten fallen. «Mein Zwillingsbruder. André.»
Winter rief im Krankenhaus an. Dort hatte ein anderer Beamter die Wache von Musso übernommen. «Hallo? Winter hier. Keine Veränderung? Okay. Wir haben jetzt zu dem Verletzten einen Namen. Bründl. André Bründl. Damit kann man ihn vielleicht besser ansprechen, falls er aufwacht.»
Andrés Zwillingsbruder verbarg sein Gesicht in den Händen.
«Scheiße», sagte er. «Scheiße. Ich hab ihm noch gesagt, er soll das lassen.»
***
Alle Fenster in dem kleinen Besprechungsraum standen offen. Es versprach, heiß zu werden. Die Feuchtigkeit der gestrigen Regenschauer stieg auf und machte um neun Uhr morgens schon die Luft schwer.
Winter fühlte sich übernächtigt, benebelt im Gehirn und depressiv. Nach dem sehr anstrengenden gestrigen Tag war er erst tief in der Nacht nach Hause gekommen. Und hatte sich von Carola wieder Vorhaltungen anhören müssen. Warum er nicht angerufen habe? Winter war der Meinung, er habe ihr, wie in solchen Fällen üblich, am Nachmittag gesimst, es werde spät werden. Carola war der Meinung, dass sie daran nicht habe ablesen können, dass er erst um halb drei Uhr nachts gedenke heimzukehren. Das war eine Weile so hin und her gegangen, bis er mit den Worten, er brauche jetzt seinen Schlaf, einen Schlussstrich gezogen hatte. Er wusste natürlich, dass Carola ihm nun erst recht böse war, und kam nur schwer zur Ruhe.
Als er damals von seiner Schwägerin erfahren hatte, Carola sei verfrüht in den Wechseljahren, war er direkt zu seiner Frau gegangen, hatte sie in den Arm genommen und ihr gesagt, dass er gerade ihr Geheimnis erfahren habe. «Mein armer Schatz ist in der zweiten Pubertät», hatte er gesagt und sie fest gedrückt. Sie hatte angefangen zu weinen und zugleich ein bisschen gekichert. Winter hatte wieder die humorvolle, lockere Frau in ihr erkannt, die er geheiratet hatte und die im letzten Jahr einem gereizten, aggressiven Nervenbündel Platz gemacht hatte. «Das packen wir zusammen», hatte er ihr zugeflüstert.
Eine Zeitlang war es tatsächlich mit ihnen besser gegangen. Er hatte sich mit vielen kleinen Gesten um sie bemüht, und sie hatte das zu goutieren gewusst. Doch dann hatte sich der Alltag wieder eingeschlichen, wie er sich in den letzten Jahren entwickelt hatte, ein Alltag, in dem praktisch kein Familienleben stattfand und Winter und seine Frau sich kaum sahen. Er verbrachte die Abende Zeitung lesend oder am Laptop in der Küche, während Carola um acht ihren Fernsehabend im Bett einläutete, mit Sendungen, die ihn nicht interessierten. Tochter Sara wurde wieder zum Hauptthema zwischen den Eheleuten Winter, und diese Gespräche verliefen selten positiv. Einmal wagte Winter, in einer solchen Diskussion zu sagen, dass Carola Saras Verhalten weniger extrem bewerten würde, wenn sie nicht selbst wegen Hormonumstellung so unausgeglichen wäre. Das brachte Carola derart auf, dass die Auseinandersetzung fast schlimmer eskalierte als all die Streitereien zuvor.
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