Schattenherz

bei einem sehr viel jüngeren Menschen als deiner achtzigjährigen Erbtante darf der oder die Verschollene gemäß Bundesgesetzblatt, Absatz 1 auch nach zehn Jahren noch nicht für tot erklärt werden.« Er brachte seinen Läufer in Position und lachte schadenfroh. »Schach und matt, mein Lieber!«
    Gräther gab einen unwilligen Grunzlaut von sich und griff nach seinem Weinglas.
    Das Fenster war in Kippstellung. Sie mussten nicht einmal die Fensterscheibe einschlagen.
    Malin ließ den Lichtkegel der Taschenlampe über Wände und Fußboden ihres Zimmers schweifen: Der Raum war leer.
    Es roch nach frischer Farbe und die Dielen waren ebenso wie die Fensterrahmen komplett erneuert worden. Nichts deutete mehr auf Malins frühere Anwesenheit hin.
    Fassungslos starrte sie in das angrenzende Zimmer. Auch hier keine Spur seiner ehemaligen Einrichtung.
    Â»Was soll das denn?!« Malin schnappte empört nach Luft. » Wo sind meine Sachen?! Es ist doch bestimmt nicht alles verbrannt!«
    Anatol warf einen unbehaglichen Blick aus dem Fenster.
    Â»Malin …«
    Schlagartig wurde Malin klar, was Anatols Reaktion zu bedeuten hatte: Keine Brandspuren und nicht der kleinste Hinweis darauf, dass ich hier einmal gewohnt habe!
    Â»Anatol! Das hier waren wirklich meine Zimmer! Wahrscheinlich hat das Löschwasser alles ruiniert!«
    Â»Klar. Kann sein…«
    Â»Und vielleicht hat Helmut das Sofa von ’ner Polsterreinigungsfirma abholen lassen. Und der Schreibtisch und die anderen Möbel sind vielleicht beim Schreiner. Zur Reparatur.«
    Anatol nickte abwesend. »Wo bewahrt denn dein … dein Adoptivvater seine Papiere auf?«
    Â»Vorne im Hauptgebäude. Unten ist ’ne Durchgangstür.«
    Während sie die Wendeltreppe heruntergingen, schaltete Malin ihren MP3-Player an. Ihr Herz begann mit jeder Stufe, schneller zu schlagen. In den Turm kam außer der Putzfrau normalerweise niemand, aber wenn jemand im Haupthaus war …
    Die Durchgangstür war wie immer unverschlossen.
    Anatol blieb – überwältigt von dem Anblick, der sich ihm dahinter bot – wie angewurzelt stehen.
    Ein gewaltiger Kronleuchter dominierte den Raum. Die Steinfliesen auf dem Boden waren mit dicken, rot gemusterten Orientteppichen belegt und an den Wänden hingen übermannshohe Ölgemälde von Männern und Frauen in gepuderten Perücken.
    Â»Darf ich vorstellen: meine Vorfahren!« Malin leuchtete den streng dreinblickenden Damen und Herren in die Gesichter. »Der Dicke da ist Onkel Manni und das Busenwunder mit dem Wuschelhund im Arm ist Tante Käthe. Dahinten siehst du meinen Ahnherrn Kevin den Kurzen und der da … «
    Sie gab sich alle Mühe, die angespannte Stimmung mittels Erfindung weiterer höchst unwahrscheinlicher Namen aufzubrechen, aber ihre Versuche liefen ins Leere: Anatol nickte nur, offenbar immer noch geradezu erschlagen von der Wirkung des pompösen Entrees.
    Schließlich gab Malin auf. »Hier entlang«, sagte sie und leuchtete auf eine der vier Türen, die von der Eingangshalle aus ins Innere des Hauses führten.
    Â»Mach’s gut! Bis bald!« Klaus Behrens brachte seinen Besucher zu dessen Wagen. »Und als Freund lass dir gesagt sein: Mein lieber Helmut, du bist mehr als leicht zu durchschauen.« »Was? Wie meinst du das?«
    Â»Na ja, von wegen für tot erklären und so.« Behrens lachte. »Die steinalte Erbtante hab ich dir doch keine zwei Sekunden lang abgekauft!«
    Â»Okay. Hätt mich auch gewundert.« Gräther zuckte die Achseln. »Ich wollte dich einfach nicht ohne zwingenden Anlass in Dinge hineinziehen, die dich im Zweifelsfall deine Zulassung kosten könnten.«
    Â»Oh, verbindlichsten Dank, Majestät …« Behrens deutete eine übertriebene Verbeugung an, »… aber das lass mal getrost meine Sorge sein.«
    Â»Will heißen?«
    Â»Als dein Anwalt kann ich dir nur raten: Halt den Ball flach!«
    Â»Quatsch!« Gräther winkte unwillig ab. »Wie soll denn das gehen? Als besorgter Vater musste ich schließlich wohl oder übel die Bullen einschalten, nachdem Malin nicht wieder aufgetaucht ist.«
    Â»Na und? Ich red ja auch nur von Ball flach halten. Das Ganze runterspielen! Also: Du fährst jetzt zur nächsten öffentlichen Telefonzelle und rufst bei dir zu Hause an. Zwei Minuten reichen, dann legst du wieder auf. Dann kannst du zumindest