Schattenherz
Bauarbeiter, Männer, die große Scharen von Bauern auf dem Feld befehligten, Männer die Pferde züchteten oder Schilde schmiedeten. Die Stärke eines Volkes ließ sich nicht nur anhand seiner Krieger be-messen.
Und wenn man einen Lord nach den Stärken der Männer beurteilte, die er befehligte, dann hätte der Erdgeist keinen besseren als Gaborn erwählen können. Mystarria war das größte und reichste Land in Rofehavan.
Vielleicht hatte sich der Erdgeist zum Teil wegen der Stärke seines Volkes für Gaborn entschieden.
Wenn das stimmte, dann hatte der Erdgeist ihn nicht nur aufgrund seiner eigenen Verdienste als Erdkönig erwählt, sondern weil er wußte, er könne auf Borenson, den Beschützer des Erdkönigs, zählen.
Der Gedanke erstaunte ihn und erfüllte ihn mit Demut. Denn demnach wäre er vielleicht doch viel tiefer in die ganze Angelegenheit verwickelt als gedacht.
Es bedeutete auch, daß die Erde ihm vielleicht seine besten Bemühungen abverlangte. Möglicherweise mußte er Gaborn sogar vor sich selber schützen.
Erst vor einer Woche hatte Borenson sämtliche Übereigner des Hauses Sylvarresta getötet, um Raj Ahten auf diese Weise ihre Gaben zu nehmen. Das Grauen dieser Tat hatte seiner Seele Wunden zugefügt, die er nicht in Worte zu fassen wußte.
Er hatte aus Gaborns Diensten fliehen, zum Unabhängigen Ritter werden und den leeren Schild nehmen wollen.
Jetzt erkannte er, daß dies nicht möglich war, nicht, solange er Gaborn helfen wollte.
Er konnte auch nicht nach Süden reiten und den Akt der Reue vollbringen, den Iome von ihm gefordert hatte. Es war unsinnig, nach einem Fabelwesen zu suchen. Sie hatte es nur deswegen verlangt, weil ihr Volk über Borensons Mord am König empört gewesen war. Dabei hatte Sylvarresta ohne seine Geisteskraft nur mehr einen Strohmann dargestellt.
Borenson hatte sich diesen Auftrag aus Gründen ausgesucht, die denen Gaborns widersprachen. Der Erdkönig wollte um Frieden bitten, doch was er wirklich brauchte war ein Mann, der fähig war, heimlich nach Indhopal zu reiten und Kindern die Kehle aufzuschlitzen, die man betrogen hatte, damit sie Raj Ahten Gaben abtraten. Er brauchte einen Mann, der den Greifern die Stirn bot, sobald sie aus ihren Höhlen krochen. Er brauchte einen Mann, der Gaborns Schwächen kannte und der ihn nicht verachtete, weil er nur ein junger Mann und als Erdkönig nicht geeignet war.
Er brauchte einen Meuchelmörder.
Solche Gedanken trieben Borenson, während er über die schmalen Bergpfade nach Deyazz galoppierte.
Als er um eine Biegung kam, flog eine Schar Krähen auf. In der Haarnadelkurve vor ihm tauchte plötzlich ein Trupp von einhundert Soldaten auf.
Die Straße rechts war zu steil, um sie hinaufzuklettern. Nach links ging es fast senkrecht in die Tiefe. Sein Pferd war klug gewesen, anzuhalten, noch bevor Borenson die Zügel zurückreißen konnte.
Allerdings hatte man das Tier darauf abgerichtet, die Wappenfarben von Raj Ahtens Truppen zu hassen. Es trat mit einem Huf in die Luft, stampfte, schnaubte und zerrte an der Trense, als es so viele goldene Wappenröcke erblickte, auf denen das karminrote Wolfskopftrio zu erkennen war.
Der Kommandant des Trupps war ein Unbesiegbarer, ein kräftiger Kerl mit einer schiefen Nase, pockennarbiger Haut und düster funkelnden Augen. Er hielt eine langstielige Keule in der Hand. Hinter ihm zogen mehrere Männer ihren Bogen.
Plötzlich hörte Borenson hinter sich Hufschlag. Er sah sich um, blickte die Straße hinauf. Ein weiterer Trupp Lanzenträger ritt von hinten heran. Offenbar waren sie vom Hügel oben heruntergekommen. Er hatte nicht einmal ihre Späher bemerkt.
In der Falle. Er saß in der Falle.
»Wohin des Wegs, Rotschopf?« erkundigte sich der
Unbesiegbare.
»Ich trage eine Nachricht des Erdkönigs bei mir und reite unter dem Banner des Waffenstillstands.«
»Raj Ahten steht nicht hier in Indhopal, wie Ihr sehr wohl wißt«, erwiderte der kräftige Kerl. »Er befindet sich in Mystarria. Ihr könntet Euch einige Unannehmlichkeiten ersparen, wenn Ihr zurück in Euer eigenes Land reiten würdet.«
Borenson fügte sich mit einem Nicken, die Augen zum Zeichen des Respekts halb geschlossen.
»Meine Nachricht ist nicht für Raj Ahten bestimmt«, erklärte Borenson. »Statt dessen soll ich eine Nachricht zum Palast der Konkubinen in Obran bringen, zu einer Frau namens Saffira, der Tochter des Emirs von Tuulistan.«
Der Unbesiegbare neigte seinen Kopf nachdenklich zur Seite.
Auf
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