Schattenherz
verwunderte ihn die Übelkeit, die ihn überwältigte, und er glaubte, sein Magen verkrampfe sich. Dann erfolgte der Verlust der Gaben derart jäh, daß er nicht recht zu unterscheiden wußte, was als nächstes verlorenging – Körperkraft oder Durchhaltevermögen, Geruchssinn, Gehör oder Sehkraft. Alles ging in wenigen Augenblicken zur Neige und ließ ihn als leere Hülle zurück.
Zur gleichen Zeit, da ihm seine Gaben entschwanden, ergriff ihn eine verzweifelte Trauer. Er blickte in die Augen der jungen Bauernburschen, die ihm vor Jahren Muskelkraft überlassen hatten. Vielversprechende Jungen, die ihm ihre vielversprechenden Leben geopfert hatten.
Eigentlich sollten sie sich lieber mit ein paar Mädels vergnügen, dachte Borenson. Und nicht im Blauen Turm sterben. Er erinnerte sich an die alte Tamara Scane, die ihm kleine Küchlein geschenkt hatte, als er noch ein Kind gewesen war, und später, als er diese brauchte, eine Gabe des Stoffwechsels. Er dachte an all jene, welche die alte Frau vermissen würden.
Doch sosehr er auch um sie trauerte, viel mehr verzweifelte er über sich selbst, denn der Tod seiner Übereigner rief ihm die alptraumhaften Bilder wieder ins Gedächtnis, die er vor einer Woche auf Burg Sylvarresta gesehen hatte: Damals hatte er die dortigen Übereigner gnadenlos hingeschlachtet.
Borensons Bewacher hatte den größten Teil des Vormittags geschwiegen. Sie waren wie der Wind durch Deyazz geritten, ein Land, in dem die Sonne, soweit Borenson sich erinnerte, heller schien als irgendwo sonst. Es war ein wunderschönes Land, und obwohl er sich nur fünfhundert Meilen südlich von Heredon befand, war das Wetter westlich des Alcairgebirges beträchtlich wärmer.
Deyazz lag im Norden der großen Salzwüste, dem heißen Herzen Indhopals, deren Wüstenhitze von den Winden
herübergeweht wurde. Deyazz war kein tropisches Land, trotzdem gefror das Wasser selbst im tiefsten Winter selten.
Die Felder der Bauern längs des Flusses Anshwavi waren von üppig grüner Farbe. Reiher gingen in den oft überfluteten Feldern auf Jagd. Kleine Jungs in weißen Leinenlendenschurzen halfen ihren Müttern und Schwestern, die Reisernte in Weidenkörben einzubringen.
Borenson war durch Städte aus weißgetünchten
Lehmziegeln geritten, in denen die Lords des Landes majestätische Paläste mit von vergoldeten Kuppeln überkrönten Dächern errichtet hatten. Dunkelhäutige Schönheiten in Kleidern aus Seide und mit Ringen aus Gold und Rubinen als Schmuck in Ohren und Nase lustwandelten zwischen den imposanten Säulen der Paläste oder saßen an glitzernden Brunnen.
Die Städte bestanden nicht aus den engen Straßen, wie man sie in den ummauerten Städten von Burg Sylvarresta antraf, sondern aus breiten, sonnendurchfluteten Alleen. Als Folge davon rochen die Städte in Deyazz sauber – und nicht so sehr nach Mensch und Tier wie die im Norden.
Und doch waren überall Spuren des Krieges zu erkennen.
Borenson hatte Kolonne auf Kolonne von Soldaten überholt, und die Burgen längs der Grenze waren zum Bersten mit Menschen gefüllt. Als er und der Unbesiegbare durch kleinere Ortschaften kamen, verfolgte das gewöhnliche Volk Borenson mißtrauisch mit den Augen. Kleine Jungs bewarfen ihn mit Feigen, während ihre Mütter ihn mit Flüchen überhäuften.
Nur ein-oder zweimal hatte er von einem alten Mann oder einer alten Frau den hoffnungsvollen Zuruf: »Habt Ihr den Erdkönig gesehen?« gehört.
Während ihn dann seine Gaben verließen, sackte Borenson nach vorn und schlang die Ketten seiner Handschellen um seinen Sattelknauf, um zu verhindern, daß er herunterfiel.
Tränen traten ihm in die Augen.
»Hilfe!« rief er. Er hatte seit Tagen nicht geschlafen und seit gestern spät am Abend nichts mehr gegessen. Dank seiner Gaben des Durchhaltevermögens hatte er weder Hunger noch Erschöpfung verspürt. Jetzt jedoch war er fast blind vor Ermattung, was es schwierig machte, den Blick auf ein bestimmtes Ziel zu konzentrieren, zudem zog sich sein Magen in Hungerkrämpfen zusammen.
Sein Häscher sah sich finster nach ihm um und schien eine List zu befürchten. Im Augenblick ritten sie durch eine Marktstraße zwischen den Toren einer Stadt. Die Aromen von Curry, Ingwer, Kümmel, Anis, Paprika und scharfen Pfefferschoten erfüllten die Luft. Zahnlose, alte braunhäutige Männer mit Turbanen hockten unter Schirmen in der Mittagssonne, lächelten Borensons Häscher zu und boten ihm ihre Speisen zu günstigem Preis an. Viele
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