Schattenherz
seinem Herzen so korrupt. Ist es vielleicht unangemessen, wenn ich behaupte, sein eigenes Volk fürchtet ihn ebensosehr wie seine Feinde? Und das zu Recht.«
»So etwas in Indhopal zu behaupten«, drohte der
Unbesiegbare, »bedeutet den Tod!« Seine Augen flackerten, und seine Hand verirrte sich zu dem gebogenen Dolch an seiner Seite. Er zog ihn halb aus seiner Scheide.
»Die Wahrheit zu sagen bedeutet in Indhopal den Tod?« fragte Borenson ungläubig. »Dabei habt Ihr selbst von mir verlangt, ich solle die Wahrheit sprechen. Stellt der Preis für mein Mittagessen etwa mein Leben dar?«
Der Unbesiegbare erwiderte nichts, also fuhr Borenson fort:
»Aber ich habe die Frage noch nicht ganz beantwortet: Ich diene dem Erdkönig, weil er ein gutes Herz hat. Er liebt sein Volk. Er liebt sogar seine Feinde, und sein Ziel ist es, sie alle zu erretten. Ich diene dem Erdkönig, weil die Erde ihn Erwählt und ihm ihre Kraft verliehen hat, und das ist etwas, das Raj Ahten mit all seinen Armeen und seinem hübschen Gesicht niemals erreichen wird!«
Der Unbesiegbare brach in freundliches Gelächter aus. »Ihr habt Euch Euer Mittagessen verdient, mein Freund! Ihr wart aufrichtig, und dafür danke ich Euch.« Er reichte Borenson die Hand. »Ich heiße Pashtuk.«
Pashtuk reichte ihm die Schale mit Reis und Ente. Borenson war nicht entgangen, daß er ihn ›mein Freund‹ genannt hatte.
In Indhopal kamen solche Worte niemandem leicht über die Lippen.
Er gab sich einen Ruck und fragte: »Als Ihr ein kleiner Junge wart, Pashtuk, habt Ihr da nicht auch geträumt, eines Tages würde der Erdkönig kommen? Wolltet Ihr nicht auch immer ein Ritter in seinem Gefolge werden? Dient Ihr von nun an dem Erdkönig?«
Der Unbesiegbare nahm einen Löffel Reis und betrachtete ihn nachdenklich. »Ich hätte nicht gedacht, daß er klein und häßlich ist und Rat von Frauen annimmt. Ich wußte auch nicht, daß er aus Feindesland stammt…«
Borenson aß nachdenklich. Die Schale Reis war nicht sehr groß und stillte kaum seinen Hunger. Sie füllte seinen Magen, ohne ihn zu sättigen, und gab ihm ein wenig seiner Kraft zurück.
Er dachte über die Folgen der Katastrophe im Blauen Turm nach. Wenn er seine Gaben verloren hatte, war es Tausenden von anderen Kriegern sicher ebenso ergangen. Viele Lords hatten es vorgezogen, ihre Übereigner unter ihren persönlichen Schutz zu stellen. Andererseits hatte der Blaue Turm Jahrtausende überdauert und war seit der
Meeresblockade von König Tison dem Kühnen vor
vierhundert Jahren nicht mehr erfolgreich angegriffen worden.
Die Lords von Mystarria waren sicherlich in Panik.
Schlimmer noch, Borenson mußte sich fragen, was aus Gaborn geworden war. Der hatte seine Gaben mit Sicherheit ebenfalls verloren.
Raj Ahten war es nicht gelungen, Gaborn aus seinem
Versteck in Heredon zu vertreiben. Er wußte, solange die Wichte des Dunnwalds dem Erdkönig dienten, konnte er nicht nach Heredon vordringen und nicht riskieren, seine Armeen nach Norden marschieren zu lassen. Also trachtete er danach, Gaborn unter Druck zu setzen und ihn in seine Reichweite zu locken. Der Erdkönig hatte sich darauf verlassen, daß Herzog Paldane alle Angriffe gegen Mystarria zurückwarf. Paldane war alt und weise, ein ergrauter Veteran, der in Ordens Interesse Dutzende von Feldzügen gegen kleine Despoten und Banditen geführt hatte. Niemand war zuverlässiger als der Herzog.
Aber auch er konnte nicht kämpfen, wenn ihm die Hände gebunden waren, und genau das hatte Raj Ahten
herbeigeführt.
Selbst in seinem geschwächten und erschöpften Zustand erkannte Borenson das in voller Deutlichkeit. Raj Ahten wußte, Gaborn konnte der Versuchung, in den Kampf zu ziehen, nicht länger widerstehen.
Es hätte kein geeigneteres Lockmittel geben können als das Leben eines ganzen Volkes, das Leben eines jeden, den Gaborn kannte und liebte.
Am liebsten hätte Borenson jetzt, in diesem Augenblick, mit ihm gesprochen und seinen Lord bedrängt, zu fliehen und in den Norden zurückzukehren. Er war jedoch nicht sicher, ob er das konnte. Denn wenn Gaborn nicht nach Süden marschierte, würde Raj Ahten Mystarria zerstören.
KAPITEL 22
Der Glorreiche der Finsternis
E
rin und Celinor galoppierten ein gutes Stück vor den anderen und ritten gerade durch die Berge südlich von Hayworth, als Gaborns Warnung sie erreichte. »Versteckt Euch!«
Sie schoß Erin durch den Körper, und sofort begann ihr Herz heftig zu klopfen. Augenblicklich sah sich die
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