Schattenherz
Königs gestellt hatte.
»Wie lange habe ich bloß geschlafen?« fragte er sie flehend.
Sein Mund fühlte sich entsetzlich trocken an, und die Worte kratzten ihm im Hals. »Welches Jahr schreiben wir?«
»Jahr?« entgegnete die junge Frau, die sich kaum gegen seinen Griff wehrte. Sehr fest hielt er sie nicht. Sie hätte sich losreißen können, entschloß sich aber statt dessen zu bleiben.
Er roch ihren Duft – oder vielleicht die getrockneten Veilchen.
»Wir schreiben das zweiundzwanzigste Jahr der Herrschaft von Mendellas Val Orden.«
Die Neuigkeit überraschte Roland nicht, trotzdem trafen ihre Worte ihn wie ein Schlag. Einundzwanzig Jahre war es her, daß er seine Gabe des Stoffwechsels in die Dienste des Königs gestellt hatte. Einundzwanzig Jahre hatte er auf dieser Pritsche geschlafen, während gelegentlich junge Frauen gekommen waren, um ihn zu waschen oder ihm Brühe oder Wasser in den Hals zu löffeln und nachzusehen, ob er noch atmete. Er hatte seinen Stoffwechsel einem junger Krieger abgetreten, einem Unterkommandanten namens Drayden.
Während dieser einundzwanzig Jahre dürfte Drayden mehr als vierzig Jahre gealtert sein, Roland dagegen hatte geschlafen und war nicht einen Tag älter geworden. Erst wenige Augenblicke zuvor schien Roland vor Drayden und dem jungen König Orden gekniet und die unsäglichen Schmerzen der Zwingeisen gespürt zu haben, die sich in seine Brust einbrannten, während die Annektoren ihm seinen Stoffwechsel entzogen.
Roland war aufgewacht und hatte gewußt, daß Drayden nicht mehr lebte. Wenn ein Mann einem Lord den Gebrauch seiner Eigenschaften überließ, bekam der Übereigner diese beim Tod des Lords zurück. Ob Drayden im Kampf oder im Bett gestorben war, war für Roland nicht ersichtlich. Doch daß Drayden nicht mehr lebte, stand jetzt, da Roland zu einem Wiederhergestellten geworden war, fest.
»Ich gehe jetzt«, sagte das Mädchen, das sich immer noch nur zaghaft zur Wehr setzte.
Roland spürte den weichen Flaum auf ihrem Unterarm. Sie hatte zwei Mitesser im Gesicht, mit der Zeit jedoch, so nahm er an, würde sie zu einer Schönheit werden.
»Mein Mund ist trocken«, erwiderte Roland, ohne sie loszulassen.
»Ich gehe Wasser holen«, versprach sie ihm daraufhin. Sie hatte es aufgegeben, sich zu wehren – so als hoffte sie, er würde sie deswegen laufenlassen.
Roland gab ihr Handgelenk nun frei, blickte ihr jedoch fest ins Gesicht. Er war ein gutaussehender junger Mann – mit seinem langen roten, nach hinten gebundenen Haar, einem kräftigen Kinn, durchdringenden blauen Augen und einem schlanken, muskulösen Körper.
»Gerade eben, als du mich im Schlaf geküßt hast, was hast du da gewollt – mich, oder hast du dir etwa einen anderen Mann vorgestellt?«
Das Mädchen zitterte vor Angst und schaute zur kleinen Holztür von Rolands Kammer hinüber, als wolle sie sich vergewissern, daß sie auch bestimmt geschlossen war.
Schüchtern zog sie den Kopf ein. »Euch.«
Daraufhin betrachtete Roland ihr Gesicht. Ein paar
Sommersprossen, ein gerader Mund, eine grazile Nase. Er wollte sie küssen, gleich hinter ihre kleinen Ohren.
Dann begann das Mädchen, um die Stille zu füllen, zu plappern. »Ich beobachte Euch, seit ich zehn bin. Ich… in dieser Zeit habe ich Euren Körper sehr gut kennengelernt.
Euer Gesicht hat etwas Gütiges, etwas Grausames und Schönes. Manchmal habe ich mich gefragt, was Ihr wohl für ein Mann seid, und gehofft, Ihr würdet aufwachen, bevor ich heirate. Ich heiße Sera, Sera Crier. Meine Eltern und meine Geschwister sind alle bei einem Erdrutsch umgekommen, als ich noch klein war, deshalb diene ich jetzt hier im Bergfried.«
»Kennst du meinen Namen?« erkundigte er sich.
»Borenson. Roland Borenson. Jeder im Bergfried kennt Euch.
Ihr seid der Vater eines Kommandanten der Garde des Königs.
Euer Sohn dient Prinz Gaborn als Leibwächter.« Das gab Roland zu denken. Seines Wissens hatte er gar keinen Sohn.
Aber zu dem Zeitpunkt, da er seine Gabe abgetreten hatte, hatte er eine junge Frau gehabt, die vermutlich inzwischen bereits alt war. Damals wußte er nicht, daß sie schwanger war.
Er fragte sich, ob das Mädchen die Wahrheit sagte. Wunderte sich, wieso sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Laut fragte er: »Du kennst meinen Namen. Weißt du auch, daß ich ein Mörder bin?«
Das Mädchen wich erschrocken zurück.
»Ich habe einen Mann getötet«, hatte Roland zugegeben.
Wieso erzählte er ihr das? Vielleicht weil der Mann vor
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