Schattenherz
rüttelte ihn hin und her. Er stieß den Kopf des Kerls von sich.
»Ich bewundere Männer, die ihre Zuneigung offen zeigen können, aber bitte zeigt sie nicht mir.«
Der Kerl öffnete die blutunterlaufenen Augen und starrte ihn eine halbe Sekunde lang an. Roland erwartete, der Kerl würde sich verlegen entschuldigen.
Statt dessen wurde er bleich vor Schreck. »Borenson?«
brüllte er, plötzlich hellwach. Er schob seinen massigen, dreihundert Pfund schweren Körper rücklings zur Wand, schmiegte sich schlotternd an sie, als hätte er fürchterliche Angst, Roland könnte zuschlagen. »Was macht Ihr denn hier?«
Ein riesenhafter Kerl mit schwarzem Haar und nicht wenig Grau im Bart. Roland kannte ihn nicht. Allerdings habe ich einundzwanzig Jahre lang geschlafen, überlegte er. »Kenne ich Euch?« fragte Roland.
»Mich kennen? Ihr hättet mich fast umgebracht, wenn ich auch zugeben muß, ich hatte es verdient. Ich war damals ein Narr. Aber ich habe bereut, und jetzt bin ich nur noch ein halber Narr. Erinnert Ihr Euch nicht mehr? Baron Poll!«
Roland war dem Mann noch nie begegnet. Er verwechselt mich mit meinem Sohn, Ivarian Borenson, vermutete Roland, von dessen Existenz er erst nach dem Erwachen aus seinem langen Schlaf erfahren hatte.
»Ah, Baron Poll!« erwiderte Roland begeistert, und wartete darauf, daß der Kerl seinen Fehler bemerkte. Roland erschien es unwahrscheinlich, daß sein Sohn ihm mit seinem feuerroten Haar und dem blassen Teint so ähneln sollte. Die Mutter des Jungen hatte recht dunkle Haut gehabt. »Schön, Euch zu sehen.«
»Gleichfalls. Außerdem bin ich froh, daß Ihr die Sache so betrachtet. Unser Streit ist also vergessen? Ihr verzeiht mir…
den Diebstahl Eures Geldbeutels? Alles?«
»Soweit es mich betrifft, ist es so, als wären wir uns nie begegnet«, sagte Roland.
Plötzlich erweckte Baron Poll einen verwirrten Eindruck.
»Ihr seid in großzügiger Laune… nach all den Prügeln, die ich Euch verabreicht habe. Aber wahrscheinlich hat Euch das zum Mann gemacht. Fast könnte man sagen, Ihr steht in meiner Schuld. Hab’ ich recht?«
»Ah, die Prügel«, wiederholte Roland mechanisch, immer noch verwundert, weil der Kerl seinen Irrtum nicht bemerkte.
Roland wußte nur eins über seinen Sohn: er war Kommandant in der Garde des Königs. »Schon in Ordnung. Ich habe es Euch doch sicher mit gleicher Münze heimgezahlt, oder?«
Baron Poll starrte Roland an, als sei er vollkommen verrückt geworden. Roland mußte sich eingestehen, daß sein Sohn offenbar wohl nicht mit gleicher Münze zurückgezahlt hatte.
»Na ja…«, wagte Baron Poll sich immer noch argwöhnisch vor, »unsere Aussöhnung freut mich. Aber… was macht Ihr hier unten? Ich dachte, Ihr seid nach Norden aufgebrochen, Richtung Heredon?«
»König Orden ist leider tot«, antwortete Roland ernst. »Raj Ahten ist mit ihm bei Longmot zusammengestoßen. In der Schlacht sind Tausende unserer Männer gefallen.«
»Und der Prinz?« erkundigte sich Poll mit bleicher Miene.
»Dem geht es gut, soweit ich weiß«, sagte Roland.
»Soweit Ihr wißt? Ihr seid doch sein Leibwächter?«
»Aus ebendiesem Grund habe ich es auch eilig, zu ihm zurückzukehren«, erwiderte Roland und kletterte vom Bett herunter. Er warf sich seinen neuen Reiseumhang aus Bärenfell über die Schultern und streifte seine Stiefel über.
Baron Poll wuchtete seinen schweren Leib an die Bettkante und sah sich sprachlos um. »Wo ist Eure Axt? Euer Bogen? Ihr reist doch nicht etwa unbewaffnet?«
»Doch.« Roland hatte es eilig, nach Heredon zu gelangen. Er hatte sich nicht die Zeit genommen, Waffen zu kaufen, und erst gestern, nachdem er immer häufiger Flüchtlingen aus dem Norden begegnet war, hatte er erfahren, er werde sie womöglich brauchen.
Baron Poll betrachtete ihn, als sei er nicht recht bei Verstand.
»Ihr wißt, daß Burg Crayden vor sechs Tagen gefallen ist, zusammen mit Burg Fells und der Festung bei Tal Dur? Und vor zwei Tagen hat Raj Ahten Tal Rimmon, Gorane und Aravelle gestürmt. Zweihunderttausend Männer marschieren gegen Carris und dürften es morgen früh bei Dämmerung erreichen. Dort wollt Ihr mitten hineinreiten? Unbewaffnet?«
Roland war mit den landschaftlichen Gegebenheiten nicht sonderlich vertraut. Da er Analphabet war, konnte er keine Karte lesen, außerdem hatte er sich bis jetzt nie weiter als zehn Meilen vom Zuhause seiner Kindheit in den Höfen von Tide entfernt. Allerdings war ihm bekannt, daß die Burgen Crayden und
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