Schattenherz
Königin oder hochgestellten Dame mit mehreren Gaben der Anmut begegnete, hatte er sich dabei ertappt, daß er mit gewissen unkeuschen Versuchungen zu kämpfen hatte. Die Anmut einer Frau hatte eine weit größere Wirkung auf ihn als die eines Mannes. Doch obwohl Borenson Frauen bewunderte, hatte er immer das Gefühl gehabt, hochgestellte Damen mit mehreren Gaben der Anmut stünden über ihm – unberührbar und von solchem Liebreiz, daß sie etwas Übermenschliches bekamen. Saffira stellte mit ihren Hunderten von Gaben vermutlich eine überaus verlockende Versuchung dar.
»Ich denke, das Vergnügen werde ich mir ersparen«,
erwiderte Borenson. »An meinen Walnüssen habe ich immer schon ein wenig gehangen.«
»Ich bin auch nicht gewillt, mich von derlei Anhängseln zu trennen«, sagte Pashtuk.
Borenson schmunzelte, und Pashtuk gab mit seinem Nicken das Zeichen. Die Wachen drehten an einer Kurbel und zogen das Tor hoch.
»Schließt Eure Augen fest«, warnte Pashtuk und ließ sich in einer förmlichen Geste der Ehrerbietung auf Hände und Knie fallen. »Kneift sie fest zu, damit die Gardisten wissen, daß Ihr nichts sehen könnt. Ihr seid ein Nordländer, und sie könnten nach einem Vorwand suchen, Euch zu töten. Natürlich könnten sie Euch auch eine Augenbinde anbieten, aber vielleicht wollen sie eine Ausrede haben, Euch umzubringen.«
Borenson kniff die Augen fest zu und wußte nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Die höfischen Manieren waren von Land zu Land unterschiedlich. Saffiras Stellung war schwer einzuschätzen. Als Mitglied von Raj Ahtens Harems entsprach ihr Status nicht ganz dem einer Königin. Sie hatte ganz sicher keine Days an ihrer Seite. Andererseits war sie die Lieblingsfrau des Wolflords, ein Diamant, den er im verborgenen hütete.
Borenson beschloß, sie wie eine Königin zu behandeln.
Erschöpft ließ er sich auf den heißen, sonnenüberfluteten Steinplatten auf Hände und Knie sinken, bis seine Nase auf gleicher Höhe mit den Ameisen war.
In Handschellen ein schwieriges Unterfangen.
Zu seiner Überraschung erreichte ihn Saffiras helle Stimme, als sie schließlich sprach, in Rofehavanisch, mit einem kaum merklichen Akzent.
»Willkommen, Sir Borenson«, sagte sie. »Wir hatten noch nie Besucher aus Rofehavan. Es ist mir eine außergewöhnliche Freude. Zu meinem Entzücken stelle ich fest, es stimmt, was man sich erzählt – es gibt Männer auf der Welt, die eine bleiche Haut und Haare wie Feuer haben.« Er lauschte angestrengt auf ihre Stimme. Sie klang weich und sinnlich, geradezu melodisch, und war überraschend tief. Vermutlich war Saffira eine elegante Frau, die über Dutzende von Gaben der Stimmgewalt verfügte.
Hinzu kam, wenn sie Rofehavanisch mit solcher Perfektion sprach, ohne je einem Menschen aus diesem Reich begegnet zu sein, dann hätte sie vermutlich auch ein oder zwei Gaben der Geisteskraft übernommen.
Saffira näherte sich ihm, das Rascheln ihrer Seidenkleider kündigte sie an. Augenblicke später fiel ihr Schatten, die Sonnenstrahlen aussperrend, auf ihn, und er roch ein mildes, exotisches Parfüm. Borenson antwortete nicht, denn noch hatte sie ihm die Erlaubnis zu sprechen nicht erteilt.
»Was ist denn das?« fragte Saffira. »Ihr habt braune Flecken auf dem Kopf! Sind das Tätowierungen?«
Borenson hätte fast losgelacht. Offenbar war ihr Spra-chenstudium doch nicht allumfassend. Jetzt, da sie eine direkte Frage an ihn gerichtet hatte, fühlte er sich frei zu sprechen. »Die Flecken sind natürlichen Ursprungs, Euer Hoheit«, erläuterte Borenson. »Man nennt sie Sommersprossen.«
»Sommersprossen«, wiederholte sie. »Aber nennt man so nicht die Sprenkelung der Forellen?«
»In den nördlichen Reichen Rofehavans werden sie so genannt, Euer Hoheit, in Mystarria allerdings und in den südlichen Reichen nennen wir solche Zeichnungen ›Sprenkel‹.«
»Verstehe«, meinte Saffira amüsiert. »Ihr könnt Euch also nicht einmal im eigenen Land einigen, wie Ihr sie nennen wollt.«
Borenson hörte das Getrappel kleiner Füße. Aus dem
Innenhof liefen Kinder herbei.
»Sir Borenson«, fuhr Saffira fort, »meine Kinder sind neugierig. Sie haben noch nie einen Mann aus Rofehavan zu Gesicht bekommen und fürchten sich natürlich. Mein ältester lebender Sohn bittet um Erlaubnis, Euch zu berühren. Habt Ihr dagegen etwas einzuwenden?«
Erst gestern hatte Borenson den Kopf einer Geifermagierin vor die Tore Burg Sylvarrestas geschleppt. Kinder und sogar
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