Schattenherz
der Luft.
Roland sprang ab, zog dem Mann die Botentasche aus der Jacke, einen langen, gerundeten Beutel für Schriftrollen aus grünem, lackierten Leder. Das verletzte Pferd hob den Kopf, sah Roland an und stieß einen Schmerzensschrei aus. Roland hatte diesen Laut bei Pferden noch selten gehört.
»Seid ein bißchen gnädig zu dem Tier«, meinte Baron Poll.
Roland zog sein Kurzschwert hervor und versetzte dem Pferd, als es den Kopf abwendete, den Todesstoß.
Nun öffnete er die Botentasche, zog die Schriftrolle heraus und betrachtete sie eine halbe Sekunde lang. Er konnte kaum ein paar Worte lesen oder schreiben, hatte jedoch geglaubt, er würde das Wachssiegel erkennen. Das war nicht der Fall.
»Macht schon, öffnet sie«, drängte ihn Baron Poll. »Wir müssen zumindest herausfinden, für wen sie bestimmt ist.«
Roland erbrach das Wachssiegel, öffnete die Schriftrolle und fand eine hastig hingekritzelte Nachricht vor. Einige der Worte erkannte er: ›das‹, ›ein‹, ›und‹. Doch die längeren Worte konnte Roland nicht entziffern, sosehr er auch die Augen zusammenkniff.
»Also raus damit, verdammt!« greinte Poll.
Roland biß die Zähne aufeinander. Er war nicht dumm, allerdings auch nicht gebildet. Er warf Baron Poll die Nachricht zu. »Ich kann nicht lesen.«
»Oh«, entschuldigte sich Baron Poll, indem er die Schriftrolle entgegennahm. Er schien sie mit einem Blick zu überfliegen.
»Bei den Mächten!« stieß er hervor. »Bergfried Haberd ist bei Sonnenaufgang von Greifern überrannt worden – von
Abertausenden. Die Nachricht ist für Carris bestimmt.«
»Ich glaube, Herzog Paldane wird über weitere schlechte Nachrichten wenig erfreut sein«, meinte Roland.
Baron Poll biß sich auf die Unterlippe und dachte nach. Er blickte nach Süden, dann nach Norden, offenbar unschlüssig, welche Richtung er einschlagen sollte. »Paldane ist der Großonkel des Königs«, erläuterte er, als könnte Roland dies während der letzten zwanzig Jahre vergessen haben. »Er herrscht jetzt als Regent anstelle des Königs. Aber wenn er bei Carris belagert wird, was wahrscheinlich ist, wird er gegen die Greifer nur verdammt wenig ausrichten können. Jemand sollte diese Nachricht zu den Höfen von Tide bringen, zu den Beratern dort, und zum König.«
»Man hat doch sicher nicht nur den einen Reiter
losgeschickt«, mutmaßte Roland.
»Das kann man nur hoffen«, erwiderte Baron Poll.
Roland schickte sich an aufzusitzen, doch Baron Poll räusperte sich geräuschvoll und deutete mit einem Nicken auf den toten Boten. »Am besten schnappt Ihr Euch den Geldbeutel des Mannes. Hat keinen Sinn, ihn den Aasgeiern zu überlassen.«
Roland war nicht wohl bei dem Gedanken, einen Toten zu berauben, wußte aber, der Baron hatte recht. Wenn sie sich den Geldbeutel des Mannes nicht nahmen, würde dies der nächste tun, der vorüberkam. Außerdem, sagte er sich, wenn er schon die Nachricht des Königs überbrachte, dann stand ihm auch der Lohn des Boten zu.
Er schnitt den Geldbeutel ab und stellte fest, daß er schwerer als erwartet war. Vermutlich hatte der Mann seine ganzen Ersparnisse mit sich geführt.
Roland schüttelte den Kopf. Dies war das zweitemal in einer Woche, daß unvermittelt ein kleines Vermögen in seinen Besitz gelangte. Er fragte sich, ob dies vielleicht eine Art Zeichen war, daß er diesen Krieg gut überstehen würde.
Er sprang auf sein Pferd und brüllte Baron Poll zu: »Um die Wette!«
Dann bohrte er dem Pferd die Fersen in die Flanken, und sie galoppierten wie ein Sturm auf seinem Höhepunkt dahin.
Baron Poll besaß das schnellere Rennpferd, Roland wußte jedoch, das Tier des Dicken würde schneller ermüden.
Auf einem Hang, ein Dutzend Meilen nördlich der Stelle, wo Roland und Baron Poll den toten Boten aufgefunden hatten, stand Akhoular, der Weitseher, in der Astgabel einer hohen weißen Eiche. Den Kopf auf einen Ast gestützt, beobachtete er zwei Männer, die sich auf einer schlammigen Straße am frühen Nachmittag ein Wettrennen lieferten.
Er wußte, das waren keine Bauern, die schweren Schritts vor der bevorstehenden Schlacht bei Carris flohen. Es waren auch keine berittenen Soldaten, die in den Krieg zogen.
Es schienen zudem keine Boten des Königs in der
entsprechenden Amtstracht zu sein. Und doch mußte
Akhoular sich wundern…
Im Laufe der vergangenen Woche hatten seine Männer
mehrere Boten getötet und sich der Leichen am Straßenrand entledigt. Vielleicht waren die Boten des
Weitere Kostenlose Bücher