Schatteninsel
Chaos gab. Durch das Wasserglas war Licht gefallen und hatte es funkeln lassen, sodass es ein feierliches Gefühl war, die geschmacksneutrale Flüssigkeit zu trinken, an jenem Morgen, als die fundamentalen Dinge wieder klappten. Nichts für ungut.
»Ich warne dich, Lisa«, sagte Aaron und hob den Zeigefinger. Einen winzigen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, von allem zu erzählen. Von Bangkok und der Scheidung und Jenni. Und von anderen Dingen. Davon, dass er statt Lisa und dem in die Adern schleichenden Tod das Leben gewählt hatte.
Lisa drehte langsam den Kopf hin und her. Es sah aus, als ob sie den Zeigefinger leicht genant betrachtete. Sich wunderte, wieso in aller Welt er derart entschlossen aufragte.
Aaron ließ die Hand sinken und ging. Auf der ersten Treppenstufe rutschte er ab. Es polterte, in letzter Sekunde bekam er das Geländer zu fassen. In dem kurzen Augenblick davor schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass Fallen der schlimmste Fehler wäre, die beiden Frauenwürden sich auf ihn stürzen wie die Aasgeier und ihm die Augen ausreißen. Aber er fing sich, er war ein Profi, und sein Puls normalisierte sich schnell.
Als Aaron ins Erdgeschoss kam, blieb er mitten im Wohnzimmer stehen. Markus’ Stuhl stand verlassen am Tischende. Das Haus war still bis auf ein Prusten in der oberen Etage, als hätte jemand bei vorgehaltener Hand geniest.
−
»Gehen wir zu der Landspitze da«, rief Jenni Miro zu, der über Steine und Baumwurzeln hüpfte.
Der Wind hatte sich gelegt. Die Sonne schien schräg zwischen den Ästen hindurch und erinnerte daran, dass der Sommer unausweichlich vorüber war. Die vertraute Wehmut tröstete Jenni. Mit ihr konnte man umgehen. Über sie schrieb man Lieder. Miro blieb auf einem bemoosten Felsen stehen und schaute zur Landspitze hinüber.
»Was ist denn da?«
»Ich weiß nicht«, sagte Jenni. »Sehen wir mal nach.«
Miro schien zu zögern, sprang dann aber in der angegebenen Richtung weiter.
»Mutti«, fragte er, als sie hintereinander auf dem schmalen Pfad gingen, der zur Landspitze führen musste, »warum sind hier alle so wütend?«
»Auch Erwachsene haben manchmal Streit. Wir sind hergekommen, damit alle sagen können, was sie auf dem Herzen haben.«
»Und dann brüllen alle.«
»Es hat doch keiner gebrüllt.«
»Aber das Weib – « Miro blickte über die Schulter. Das Wort »Weib« flüsterte er nur. »Die klingt wie eine Spinne.«
»Wie eine Spinne?« Jenni lachte auf.
»Ja, die spricht so.«
Miro legte die Hände vor den Mund wie zu einem großen Trichter und sprach zischelnd durch sie hindurch.
»Lass das, Miro«, sagte Jenni und fasste den Jungen an der Hand. »Auf dich ist sie nicht wütend.«
Miro schien darüber nachzudenken. Dann entzog er sich Jennis Griff und ging schneller, lief beinahe.
»Sieh mal, wir sind gleich da!«, rief er.
Die letzten Bäume blieben zurück. Die Landspitze badete in der Sonne. Jetzt, wo der Wind sich gelegt hatte, klang das Rauschen des Meeres beruhigend. Jenni merkte, dass sie das leise Geräusch der Wellen schon die ganze Zeit gehört hatte, als sie den Pfad entlanggingen.
»Was sind das für Steinhaufen?«, fragte Miro.
»Ich weiß nicht. Vielleicht irgendwelche alten Seezeichen.«
»Was sind Seezeichen?«
»Die zeigen den Seeleuten, wohin sie fahren sollen.«
Als Miro weiterfragte, stellte Jenni fest, dass sie über Dinge redete, von denen sie keine Ahnung hatte.
»Mutti.«
»Ja?«
Miro stand vor einem der Haufen und suchte nach einem Stein, der nicht zu schwer war, um ihn zu tragen. Er fand einen und versuchte ihn in die Tasche zu stopfen. Jenni war im Begriff zu sagen, die Naht würde reißen, doch Miro kam ihr zuvor.
»Kann man unter der Erde atmen?«
Jenni blieb stehen. Miro hatte es geschafft, den Stein indie Tasche zu zwängen, und befühlte ihn nun durch den Stoff. Er sah nachdenklich aus.
»Wieso?«
»Nur so. Kann man?«
»Nein. Dazu muss man über der Erde sein.«
»Aber wieso können dann die ganzen Insekten da leben?«
Jenni sah ein, wie wacklig ihre Logik war.
»Na ja«, sagte sie, »vielleicht können die Insekten dort atmen. Die Menschen aber nicht.«
Miro dachte mit gerunzelter Stirn über die Antwort nach und ging zum nächsten Steinhaufen.
»Aber Skelette brauchen nicht mehr zu atmen?«, fragte er.
»Nein.«
Miro hatte nie direkt nach dem Tod gefragt, aber Gespräche wie dieses führten sie von Zeit zu Zeit. Sie versetzten Jenni jedes Mal in eine beängstigende
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