Schatteninsel
Hand zwischen ihre Hände. Sie kannte diese Geste, das qualvolle Reiben am Ohr. Das tat Miro auf dem Spielplatz oder bei Kindergeburtstagen, wenn jemand etwas Böses zu ihm sagte. Ihn als Idioten beschimpfte, als Rotznase, als Spasti. In solchen Momenten war Jenni immer direkt zu Miro gegangen, unfähig zu klären, wer angefangen und wer was getan oder gesagt hatte. Alle gaben sowieso immer Miro die Schuld. Jenni hatte es nie fertiggebracht, die Kinder anderer Menschen als Kinder zu betrachten. Es waren angehende Erwachsene, die Miro nicht wiedererkennen würden, wenn er ihnen in zwanzig Jahren auf der Straße begegnete. Sie würden den schwierigen Jungen und seine häufigen Wutanfälle vergessen wollen, würden allenfalls auf seine Kosten spotten in ihren teuren Wohnungen, in den Kaffeestuben, an ihren Arbeitsplätzen,abends bei einem Glas Wein, in ihren gesicherten Milieus, wo es den Anschein hatte, alle Menschen wären im gleichen Maß bedacht.
Die Haustür ging. Jenni drehte sich um und spürte, dass die Wut hochkochte, doch es war Aaron, der an der Tür stand. Nicht Lisa. Jenni war enttäuscht. Sie hatte gehofft, Lisa würde kommen und sich entschuldigen, weil sie doch noch erkannt hätte, was wirklich zählte.
»Alles okay?«, fragte Aaron.
»Nein«, fauchte Jenni.
»Geht eine Weile spazieren«, schlug Aaron vor. »Ich erledige die Sache.«
»Sie beschuldigen ein kleines Kind!«, rief Jenni und hoffte, dass ihre Worte bis in die obere Etage zu hören waren.
»Geht nur. Ich bringe die beiden zur Vernunft.«
Jenni war so überrascht von Aarons Unterstützung, dass sie kein Wort herausbrachte.
»Ich hab gar keine Schuhe an«, sagte Miro.
Jenni schaute auf seine Füße. Der Junge stand seltsam verkrampft auf Zehen und Fersen, damit seine hellblauen Socken möglichst wenig mit dem Rasen in Berührung kamen.
»Entschuldige«, sagte Jenni und nahm Miro auf die Arme. »Komm, wir holen deine Schuhe und deine Jacke.«
−
Als Jenni und Miro das Haus verlassen hatten, trat Aaron an die Treppe zum Obergeschoss und lauschte. Er hörte ein leises Gespräch. Lisa und Ina. Aaron stieg mit absichtlich schweren Schritten die Treppe hinauf, um mit Sicherheitgehört zu werden. Als er die Tür erreichte, sah Lisa ihm in die Augen, unerschütterlich wie Ackerland.
»Was hast du mit dem Jungen gemacht?«, fragte Aaron.
Sein Tonfall war ruhig, unbeteiligt, sachlich.
»Wieso?«, gab Lisa zurück.
In ihrer Stimme lag keine Wut, keine Dramatik. So hatten sie immer kommuniziert. Zumindest, bis Aarons und Jennis Affäre ans Tageslicht gezerrt worden war.
Aaron schaute Ina an und sah einen Schädel in ihrer Hand. Sie begriff offenbar nicht, wie merkwürdig sie aussah. Ihr Gesicht war blass, erschüttert, als hätte das winzige Missgeschick die ganze Welt aus der Bahn geworfen.
»Markus’ Sachen«, sagte sie und schlug die Augen nieder.
Der Schädel schien zu lachen, ohne Kinn und ohne Geräusch. Plötzlich kam es Aaron vor, als ob das ganze Zimmer von unterdrücktem Gelächter vibrierte. Lisa verstand sich auffallend gut mit diesem Mädchen. Sicher hatten sie alles immer wieder beredet, bis das Echo des bitteren Lachens sich in die Wände und Polster eingefressen hatte. Das Lachen darüber, dass Aaron in den beiden letzten Jahren seiner Ehe mit Lisa keinen mehr hochgekriegt hatte, auch darüber war sicher ausgiebig getratscht worden, in dieser Bruchbude gab es ja sonst nichts zu tun.
»Miro ist ein kleines Missgeschick passiert«, sagte Ina, die offenbar glaubte, sie sei die Ursache der drückenden Stille.
Aaron betrachtete Lisa, ohne Hast, erfüllt von innerer Sicherheit. Die beiden Frauen wussten nämlich nicht, dass alles auf Anhieb geklappt hatte, als eine andere Frau vor ihm lag. Nichts für ungut, aber was war das für ein Triumph gewesen, was für eine Befreiung in Bangkok imJahre 2001. Irgendwo fiel das World Trade Center in sich zusammen und die von den Flammen versengten Menschen stürzten sich aus hundert Meter Höhe auf den Asphalt, aber in jenem Hotelzimmer war Aarons Schwanz in eine mit kindlich nasaler Stimme redende Thai-Hure eingedrungen, hart wie ein Besenstiel. Beim Frühstück im Hotel hatte er gegen seine Gewohnheit viel Obst gegessen, den Eigengeschmack und die Nuancen jeder Frucht gekostet, ihre tiefen resoluten Farben betrachtet. Er hatte an die schwarze Behaarung des namenlosen Mädchens gedacht, sich darüber gewundert, dass Farben eine Ordnung und einen Sinn hatten, obwohl es doch so viel
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