Schatteninsel
Gedanken.
Der Landvermesser Israel Ulstadius klopfte im Herbst an ihre Tür, als Jakobs älteste Tochter Malin gerade ihren fünften Sommer erlebt hatte. Zu jener Zeit hatte Jakob bereits sorgenvolle Zeiten durchlebt, denn das Mädchen war während des regnerischen Sommers zweimal von einem seltsamen Schüttelfrost befallen worden. Die anderen Familienmitglieder waren jedoch gesund geblieben.
Das Pferd des Landvermessers war auf dem Weg nach Norden fehlgetreten und hatte sich ein Bein gebrochen. Ulstadius hatte es von seiner Pein erlösen und zu Fuß ins nächste Dorf gehen müssen. Jakobs Haus war das erste, in das er eingelassen wurde. Ulstadius wurde gastfreundlich aufgenommen und vergalt den Empfang auf die schrecklichste Art.
Nachdem er sich gewaschen und gegessen hatte, trank Ulstadius Bier, dessen Schaum an seinem Bart hängen blieb, und ereiferte sich über die Ereignisse in der Welt und darüber, dass alles immer nur schlechter wurde. DerKönigshof sei ein Sündenpfuhl. Die Geistlichen frönten der Lüsternheit. Fromme Taten seien nur noch Theater, über das die Darsteller insgeheim lachten.
»Aber es gibt noch Weisheit«, sagte Ulstadius beinahe flüsternd und beugte sich zu Jakob vor. »Sie verbirgt sich in kleinen Körnern in dieser wurmstichigen Welt.«
Jakob konnte Ulstadius’ Reden natürlich nicht gutheißen. Er achtete den König und die Geistlichkeit, glaubte an die Kraft der Gesetze und des Gebets. Der Landvermesser lachte über seine Gutgläubigkeit.
»Was findest du Gutes in diesem weltlichen Dunghaufen?«, fragte er und ließ den Blick durch die Stube schweifen. »Deine Frau? Deine Kinder? Du bist noch jung, voller Eifer und überzeugt, dass die Welt es aufrichtig meint mit dem Guten, das sie dir gegeben hat. In deinem Herzen glaubst du, dass du durch dein eigenes Wirken all das bewahren kannst. Doch glaube mir: Alles ist im Voraus dazu bestimmt zu verschwinden. Keine Tat ist dem Willen des Menschen anheimgestellt, er entscheidet nicht einmal darüber, ob er seinen kleinen Finger streckt oder krümmt. Alles geschieht, wie es vorherbestimmt ist.«
Mit flammenden Augen beugte er sich über den Tisch.
»Wenn man dir alles nimmt, wirst du meine Worte verstehen und dich grämen, weil du sie nicht früher beherzigt hast. Die Schöpfung ist mit Adam und Eva der Sünde verfallen. All die Schönheit, die du siehst, ist ludificatio daemonum , ein Spiel des Teufels. Jedes lebende Wesen ist nur ein Zerrbild des ursprünglichen Paradieses, das Gott schuf. Ein jedes Wesen, von der Ameise bis zum Pferd und zum Menschen, ist gezwungen zu essen, sich zu vermehren, zu sterben und zu verwesen, ohne Hoffnung. Nur einige Heilige finden Erlösung.«
Jakob wahrte die Beherrschung und versicherte, er gestatte Ulstadius, seine Ansichten zu behalten, und werde sie nicht weitererzählen. Aber Ulstadius war sichtlich aufgebracht. Voller Groll sagten sie einander Gute Nacht.
Am nächsten Morgen gab sich der Landvermesser versöhnlicher. Er verzichtete auf das Frühstück und bot an, für sein Nachtlager zu arbeiten. Jakob versicherte, er benötige kein zusätzliches Paar Hände. Hilfreicher sei es, wenn Ulstadius so bald wie möglich aufbreche.
Der Landvermesser fügte sich widerspruchslos. Nachdem er seine Sachen eingesammelt hatte, setzte er sich auf den Fußboden und holte einen kleinen runden Gegenstand aus der Tasche. Jakob machte sich in seinem Rücken zu schaffen und sah, dass es sich bei dem Gegenstand um einen Spiegel handelte, der Ulstadius’ Gesicht gewellt und zitternd zurückwarf. Das linke Auge des Spiegelbilds richtete sich auf Jakob.
»Hast du noch nie einen Spiegel gesehen?«, fragte Ulstadius.
»Doch, natürlich. In unserem Dorf gibt es auch einen. Bei den Falanders im Salon.«
»Ist das nicht ein wundersames Instrument? Es zeigt dein Bild, vertauscht aber links und rechts.«
Die im Spiegel sichtbare Mundhälfte verzog sich zu einem Lächeln. Jakob gab keine Antwort. Er hielt Ulstadius für einen eitlen und anmaßenden Menschen, dem er keine Aufmerksamkeit schenken wollte.
»Ein Spiegelbild ist auch insofern seltsam«, sagte Ulstadius, »als das im Glas wohnende Bild sich plötzlich in einen Fremden verwandelt.«
Jakob blieb stumm.
»Wenn man lange genug in den Spiegel schaut, beginnt man merkwürdige Dinge zu sehen«, fuhr Ulstadius fort. »Zuerst sind einem alle Züge vertraut, aber nach einer Weile wirkt das Gesicht fremd. Bin ich dieses Wesen, das der Spiegel zeigt? Ich?«
Er
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