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Schatteninsel

Schatteninsel

Titel: Schatteninsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marko Hautala
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Schritt näher heran.
    »… die sich nicht … wie heißt das noch … gestählt … gestählt haben mit der Dunkelheit …, welche der Herr im Korn verbarg.«
    »Im Korn?«
    »Ja. Und das Feuer ist tatsächlich eld utan ljus. Ohne Licht.«
    »Aber in was für einem Korn?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Mutti, schau mal!«, rief Miro, der vor einem großen, an die Seitenwand gelehnten Spiegel stand. »Ich hab Kugelaugen.«
    Jenni ging zu ihm und betrachtete sein Spiegelbild. Der Spiegel hatte zwei lange Beine und war an die Wand gelehnt. Das Glas war uneben. In der Spiegelung schien sich alles zu wellen, wie unter Wasser. Miro schwankte langsam hin und her, sodass sein Gesicht in die Länge gezogen wurde und bei jeder Unebenheit eine neue Form bekam. Seine Augen vergrößerten sich zu runden klaffenden Löchern und wurden dann wieder normal. Auch Jenni begann zu schwanken. Sie suchte nach Blasen im Spiegel, damit ihre Augen möglichst groß wurden.
    »Nicht«, sagte Miro und zupfte sie am Ärmel.
    »Nanu? Ich darf nicht?«
    »Nein.«
    Ina kam zu ihnen. Miro hatte das Gesicht an Jennis gelegt.Ihr Spiegelbild wirkte wie ein im Regen aufgeweichtes Geschwisterporträt.
    »Warum sind denn hier diese fürchterlichen Spiegel?«, fragte Jenni leise.
    »Auf der Insel sind immer schon Spiegel hergestellt worden«, erklärte Ina. »Mit einer alten Technik. Es ist mühsam und das Ergebnis ist nicht so gleichmäßig wie bei modernen Spiegeln, aber es ist eben eine Tradition. Hier gab es schon im 18. Jahrhundert Spiegelmacher, als im Rest des Landes alles aus Schweden und Frankreich importiert wurde. Noch in den Dreißigerjahren haben die Inselbewohner ihre Spiegel auf dem Festland verkauft. Heute machen sie nur noch für die Einheimischen Spiegel. Als Dekoration und so. Wir haben auch zwei im Haus, im Flur und im Bad in der oberen Etage.«
    Jenni erinnerte sich an die unebenen Spiegel mit dem Holzrand. Bei sich zu Hause würde sie nie so etwas aufhängen.
    »Ein Spiegel ist schon ein merkwürdiges Ding, wenn man es sich genauer überlegt«, fuhr Ina fort. »Früher glaubte man, dass der Teufel sich im Spiegel zeigt, wenn man lange genug hineinsieht.«
    Jenni hüstelte und deutete mit dem Kopf auf Miro.
    »Ja«, sagte Ina schnell. »Das ist natürlich nur ein Märchen. Im Spiegel ist nichts anderes als das eigene Bild.«
    Eine Weile betrachteten sie schweigend ihr Spiegelbild.
    »Wir sehen aus wie Trolle«, meinte Miro.
    »Stimmt!« Jenni lachte auf.
    »Kommt«, sagte Ina. »Ich zeig euch das Altarbild. Das heißt, eigentlich ist es auch ein Wandbild.«
    Miro folgte ihr, während Jenni noch einen Moment lang vor dem Spiegel stehen blieb und dann zwischen den Bänkenhindurch auf die andere Seite der Kirche ging. Sie näherte sich der Tür, sehnte sich danach, der stickigen, leicht modrig riechenden Luft zu entkommen. Doch es regnete immer heftiger. Jenni blieb vor der Tür stehen und betrachtete das Bild, das darüberhing, hoch oben, fast unter der Decke.
    Es zeigte einen unbeholfen gemalten, schwarz gekleideten Mann, der auf einem Felsen stand und einem neben ihm knienden Mann etwas reichte. Über dem Kopf des Stehenden streckten Engel ihre Arme aus, als wollten sie ihn in den Himmel hinaufziehen. Jenni trat näher heran.
    Auf der ausgestreckten Hand des Mannes schien ein Auge zu liegen. Eine runde weiße Kugel, deren Iris vollkommen schwarz gemalt war. Der Mann hatte die freie Hand über sein rechtes Auge gelegt. Die neben dem Felsen kniende Gestalt nahm das merkwürdige Geschenk mit beiden Händen entgegen.
    Jenni senkte den Blick auf das nächste Bild, dessen Farben besser erhalten waren, als wäre es später gemalt worden. Darauf stand der Mann, der auf dem obersten Bild das Auge in Empfang genommen hatte, und reichte es an einen dritten Mann weiter. Das Motiv wiederholte sich in absteigender Kette bis fast an den Türrahmen. Das Gesicht des Mannes, der auf dem letzten Bild das Auge entgegennahm, war undeutlich, als hätte jemand mit einem in Terpentin getränkten Tuch darübergewischt. Jenni ließ ihren Blick über die Kette wandern, kehrte immer wieder zum Anfang, zu der einäugigen Gestalt zurück. Das erste Bild wirkte alt, während alle anderen aussahen, als wären sie erst kürzlich gemalt worden. Das Wasser, das an den Kirchenfenstern hinablief, spiegelte sich jedoch auf allen Bildern und ließ die ganze Kette seltsam lebendig wirken.
    Jenni betrachtete die Gemälde noch eine Weile, seufzte dann resigniert, denn sie blieben

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