Schatteninsel
gingdann ins Bad im Erdgeschoss. Sie betrachtete ihr Bild in dem unebenen Spiegel und dachte über das Wunder von Aarons Tränen nach. Ein Wunder, das sie selbst nie hatte herbeiführen können.
An diesem Abend saßen zum ersten Mal alle an einem Tisch. Jenni betrachtete die Runde und dachte, dass eine Art Ausgewogenheit entstanden war. Lisa, Aaron, Ina und Markus saßen auf ihren Stühlen und aßen ohne das Gefühl, dass die Teller zerbrechen, die Fenster zerspringen und Vögel hereinfliegen würden. Sie hatten ihren Weg gefunden, ihren Lebensplan. Für Lisa und Aaron gab es eine gemeinsame Zukunft, auf die eine oder andere Weise. Das war Jenni klar geworden, als sie die Tränen in Aarons Augen gesehen hatte. Ina und Markus gehörten auf diese Insel. Ihre Tragödien verflochten sich miteinander in diesem Haus und unter den im Wind rauschenden Föhren.
Nur Jenni und Miro standen außerhalb. Als wären sie Fremde, die man aus reiner Gastlichkeit ins Haus gebeten hatte. Sie könnten aufstehen und gehen, ohne dass irgendetwas unterbrochen würde.
Jenni brauchte nicht zu entscheiden, ob sie mit Miro auf der Insel bleiben sollte, wie Ina vorgeschlagen hatte. Es war einfach nicht möglich. Diese Gewissheit inmitten der chaotischen Wahlfreiheit war erleichternd. Als hätte Inas Gott sich endlich eingemischt und seinen Kindern den rechten Weg gewiesen. Jenni saß zwischen Aaron und Miro und spürte, wie die Distanz zu ihrem Mann wuchs, ohne dass sie irgendetwas zu denken brauchte. Sie aßen gemeinsam, im Licht derselben Kerzen, waren aber schon so weit voneinander entfernt, dass es nichts mehr zu sagen gab.
Und auf einmal sprach Markus. Seine Stimme klang fremd. So fremd, dass alle verstummten. Messer und Gabeln verharrten auf halbem Wege.
»Ich bin immer noch der Prophet«, sagte Markus.
Lange anhaltendes Schweigen folgte. Dann entschlüpfte Ina ein kurzes Lachen.
»Entschuldigung«, sagte sie verlegen, sah die anderen an und berührte Markus am Arm. »Entschuldigung, Liebling.«
Wieder wurde es still. Dann legte Ina ihr Besteck hin und stützte die flachen Hände auf den Tisch. Ihre Schultern bebten. Sie begann erneut zu lachen, diesmal befreiter. Auf Aarons Gesicht erschien ein leises Lächeln, während er den Fisch zerteilte. Schließlich lachte Miro laut los.
Jenni wusste nicht, ob sie selbst lächelte oder nicht. Sie betrachtete Markus’ Gesicht, das im Licht der Kerzen blassgolden leuchtete. Vielleicht war das Funkeln seiner Augen nur ein Widerschein der Flammen, aber sein Mund lächelte breit. Nur Lisas Gesicht blieb ernst, ihr Blick richtete sich in die Ferne.
Als Jenni sich die Zähne geputzt und Miro ins Bett gebracht hatte, ging sie ins Erdgeschoss, um Ina zu suchen. Sie wollte sich bedanken, sich entschuldigen, etwas sagen, um das Schuldgefühl loszuwerden. Ein Schuldgefühl, das sich aus allem speiste, was sie je über Ina gedacht hatte. Niemand war zu sehen, aber im Bad rauschte die Dusche. Dennoch ging Jenni zu Inas Zimmertür und klopfte leise. Keine Antwort. Sie wollte erneut klopfen, hielt aber inne, als sie im Zimmer am Ende des Flurs jemanden leise sprechen hörte.
Eine murmelnde Stimme. Markus’ Stimme.
Jenni hielt den Atem an und lauschte. Ja. Es war Markus.
Sie ging in die Mitte des Flurs und betrachtete die angelehnte Tür.
Markus’ Gemurmel brach ab. Lisa sprach flüsternd, schien etwas zu fragen.
Jenni warf einen Blick auf die Badezimmertür und schlich sich näher an Markus’ Zimmer heran. Sie trat vorsichtig auf, fürchtete, das Parkett würde knarren. Durch den Türspalt sah sie ein Stück von Markus, der auf dem Bett lag, die Hände auf der Brust gefaltet, über ihnen Lisas nervös flatternde Hand.
»… es ist mir egal, was aus Aaron und dem armen Mädchen wird, aber was wollt ihr mit dem …«
Die Stimme wurde leiser, ging im Rauschen der Dusche unter. Jenni schlich sich noch näher an die Tür heran.
»… Markus, ich weiß, dass du mich hörst. Ich habe die Papiere und die Fotos im Arbeitszimmer gesehen. Es ist krank, Markus. Krank. Das alles beruht nur auf einer Lüge. Ich weiß doch am allerbesten, dass …«
Die Dusche wurde abgestellt. Lisas Worte waren plötzlich deutlich zu hören, so deutlich, dass Jenni sie nicht verstand. Sie wurden übertönt vom Rasseln ihres Atems, vom Pochen ihres Herzens und vom Knarren des Bodens unter ihren Füßen, und Jenni war sicher, dass all das auch an Lisas Ohren drang. Sie trat zurück, schlich so schnell wie möglich weg von
Weitere Kostenlose Bücher