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Schatteninsel

Schatteninsel

Titel: Schatteninsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marko Hautala
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rätselhaft. Sie rieb sich den Nacken und drehte sich um.
    Ina war neben Miro in die Hocke gegangen und erklärte ihm etwas. Miro deutete auf das Altarbild und stellte eifrig Fragen, die Jenni jedoch nicht hörte. Die Kirchenwände schienen die Worte zu verschlucken und nur den Tonfall an ihre Ohren dringen zu lassen. Als hörte man Musik vom anderen Ufer. Jenni dachte an Aaron und Miro, betrachtete Inas geduldige, freundliche Gesten, während Ina Einzelheiten erklärte, den Jungen nahe bei sich hielt, ab und zu lachte, die Stimme erhob und dann wieder flüsterte wie eine Märchenerzählerin. Unglaublich, wie konzentriert Miro zuhörte und immer dahin schaute, wohin Inas Finger zeigte. Jenni wagte sich nicht zu rühren, um diesen seltenen Augenblick nicht zu zerstören.
    Plötzlich wurde ihr klar, dass sie das Altarbild schon lange betrachtet hatte, bevor sie merkte, dass irgendetwas darauf ihr Herz schneller schlagen ließ. Die Gedanken an Aaron und Miro verflüchtigten sich, ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Gemälde.
    »Ina«, sagte sie.
    Wieso war ihr das Bild nicht sofort aufgefallen, als sie hereingekommen waren? Vielleicht lag es daran, dass die Umrisse und Farben irgendwie verstohlen und unschuldig wirkten. Sie täuschten das Auge. Ina hatte offenbar nichts gehört, denn sie unterbrach ihre Erzählung nicht.
    Jenni trat näher heran und wiederholte den Namen ihrer Schwester. Ina drehte den Kopf und sah sie fragend an.
    »Was passiert auf dem Bild?«
    Ina schaute wieder auf das Gemälde.
    »In Wirklichkeit?«, fragte sie. »Das weiß ich nicht. Ich habe Miro bloß die Geschichte erzählt, die mir eingefallen ist, als ich es zum ersten Mal sah.«
    Auf dem Bild standen Menschen am Ufer und schienen auf das Meer hinauszurufen. Jede Gestalt hatte den Oberkörper nach vorn gebeugt, und alle Münder standen offen. Das Wasser war rot, und unter der Oberfläche sah man einen riesigen Fischschwarm.
    »Diese Fische haben Miro und ich gestern gesehen.«
    Auf den anderen Gemälden in der Kirche waren Menschen und Tiere stark vereinfacht dargestellt, in einem fast kindlichen Stil. Auf diesem Bild dagegen waren die Fische so exakt gemalt, dass Jenni sie sofort erkannt hatte. Ina wirkte verwirrt.
    »Genau diese?«, fragte sie.
    »Ja. Nicht wahr, Miro?«
    Der Junge nickte.
    »Sie haben mit offenen Augen geschlafen«, erklärte er.
    »Fische haben die Augen immer offen, Schätzchen«, sagte Ina und richtete den Blick wieder auf das Gemälde. »Die heißen auf Schwedisch Rödögonstubb . Rotaugengrundel oder so ähnlich. Es ist eine Reliktspezies.«
    »Was bedeutet das?«
    »Eine uralte Gattung. Und sehr selten. Sie haben sich hier sehr lange gehalten, weil die Inselbewohner sich weigerten, sie zu fischen. Angeblich hat man sie nur irgendwo in Kanada vorgefunden, Anfang des vorigen Jahrhunderts. Und hier.«
    »Hier steht etwas von der Hölle«, sagte Jenni.
    »Ja. Deshalb war es hier Tradition, diese Gattung nicht zu fischen. Die Leute glauben, dass die Fische von einem schlimmen Ort kommen. Irgendwann in den Sechzigerjahrenhat man die Schwärme angeblich sogar von einem Flugzeug aus gesehen. Offenbar leuchten sie während der Laichzeit.«
    Jenni lachte verwundert auf.
    »Das habe ich auch gesehen«, sagte sie. »Ein rotes Glühen.«
    »Ach, hör auf. Die sind wirklich selten. Die Wissenschaftler in Helsinki glauben nicht mal, dass es die Art hier überhaupt noch gibt.«
    »Doch, im Ernst. Ich habe es in der Nacht vom Fenster aus gesehen.«
    »Vielleicht war das etwas anderes. Im Meer spiegelt sich alles Mögliche.«
    Jenni konnte sich nicht dazu aufraffen zu protestieren, doch sie wusste, dass der Schein von den Fischen herrühren musste. Die Erkenntnis war erleichternd und zugleich bedrückend. Ihr persönliches Wunder hatte sich in ein Gemälde an der Altarwand einer Kirche verwandelt. Sie hätte gern gesagt: Menschen habe ich auch gesehen . Aber das schien ihr irgendwie unangemessen. So viele Wunder für einen einzigen Menschen.
    »Der Regen hat offenbar aufgehört«, sagte Ina. Jenni blieb vor dem Bild stehen, bis Miro sie an der Hand fasste.
    »Gehen wir jetzt?«
    »Ja, wir gehen«, antwortete Jenni und zog ihn an sich.
    Als Ina die Tür öffnete, fiel blendendes Sonnenlicht herein. Seine Helligkeit weckte eine vage Erinnerung in Jenni, die sie nicht recht zu fassen bekam. Licht, Wind, der Geruch des Meeres. Sie gingen schweigend zum Wagen. Da fiel es ihr plötzlich ein.
    Fische fressen totes Haut.
    Sie begann hysterisch

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