Schatteninsel
den Boden kniete, um unter die Betten zu schauen. Niemand, nirgendwo. Jenni stand auf, kramte ihr Handy aus der Handtasche und wählte Aarons Nummer.
Als sie gerade auf die Anruftaste drücken wollte, hörte sie ein tiefes Brummen, das das ganze Haus zu erschüttern schien. Sie ließ das Handy sinken und horchte.
Ein Auto.
Jenni warf das Handy aufs Bett und rannte nach unten. Vom Küchenfenster aus sah sie drei Wagen. Der erste war Inas, der zweite Lisas. Den dritten erkannte sie nicht. Die Wagen hielten vor dem Haus, und aus dem ersten stieg ein Fremder, der einen blauen Thermoanzug und eine alberne Schirmmütze trug. Er hielt eine große Taschenlampe in der Hand. Hinten stieg Ina aus.
»Hier«, sagte Jenni, als hätte man sie durch die Scheibe hören können.
Ina beugte sich wieder in den Wagen. Miro hatte immer Schwierigkeiten mit dem Sicherheitsgurt, er konnte ihn nicht allein öffnen. Jenni lief zur Haustür und stieß sie auf. Als sie beim Wagen war, hatte Ina Miro bereits herausgeholfen. Der Junge sah sich verwirrt um, suchte sicher nach seiner Mutter. Ina bemerkte Jenni und zeigte auf sie, sagte etwas Beruhigendes. Miro drehte sich zu Jenni um und lächelte.
»Alles in Ordnung«, sagte Ina, als Jenni ihren Sohn in die Arme schloss.
»Wo wart ihr denn bloß?«, rief Jenni wütend, ohne zu wissen, wen sie fragte, wem sie Vorwürfe machte. Aus dem dritten Wagen stiegen zwei weitere Männer. »Jetzt ist alles in Ordnung«, wiederholte sie. »Wir dachten schon, du hättest die Insel verlassen.« Jenni drückte Miro an sich und erzählte ihm, welche Sorgen sie sich gemacht hatteund wie leid es ihr tat, obgleich sie nicht recht wusste, wofür sie sich entschuldigte. Sie betrachtete die Leute, die aus den Autos gestiegen waren, und begriff nicht, was geschehen war. Fünf Männer und eine Frau, vielleicht Inselbewohner. Und Lisa.
»Was ist passiert?«, fragte Jenni.
»Lisa«, sagte Ina. »Sie hat versucht, die Insel zu verlassen.«
Jenni sah ihre Schwester an, ahnte etwas, das zu furchtbar war, um wahr zu sein.
»Sie hat versucht, Miro mitzunehmen.«
Jenni blickte zu Lisa hinüber, die irgendwie klapprig wirkte, als wäre sie gerade aufgewacht oder betrunken. Dennoch wich sie Jennis Blick nicht aus. Hinter ihr standen zwei Männer mit ausdruckslosem Gesicht, wie Aufseher.
»Der Fährmann hat Miro erkannt und sich an eure Ankunft erinnert. Deshalb hat er sich geweigert, die beiden aufs Festland zu bringen.«
»Sie hat versucht, Miro mitzunehmen«, sagte Jenni tonlos.
Sie erinnerte sich an Aarons und Lisas Flüstern im Obergeschoss. Daran, wie Aaron Lisas Berührung zuließ.
»Wo ist Aaron?«, fragte sie.
Ina schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht. Sein Auto ist weg. Jenni, wenn ich das geahnt hätte, hätte ich Lisa nie …«
Jenni entließ Miro aus ihrer Umarmung und legte die Hände um seinen Kopf.
»Jetzt ist alles wieder gut, Mutti ist hier.«
Miro nickte lächelnd. Was hatte Lisa ihm vorgeschwindelt? Sie musste ihm eine Lügengeschichte aufgetischthaben, sonst wäre er niemals ohne seine Mutter weggefahren. Vielleicht hatte Aaron mit Lisa unter einer Decke gesteckt.
»Ina«, sagte Jenni. »Bringst du Miro ins Haus? Ich komme gleich nach.«
»Natürlich.«
»Geh mit Tante Ina. Mutti kommt bald nach, okay?«
Miro nickte.
Als Ina mit dem Jungen ins Haus ging, wandte Jenni ihren Blick wieder Lisa zu.
»Was wolltest du mit meinem Kind, du Miststück?«, fragte sie leise.
Sie trat zwei Schritte vor und nahm dem Mann im Thermoanzug die Taschenlampe aus der Hand, so schnell, dass er sie nicht daran hindern konnte. Dann eilte sie auf Lisa zu. Lisa wich nicht zurück, doch von ihrer früheren Sturheit war nichts mehr übrig. Ihr Blick flackerte, als Jenni die Taschenlampe hob. Vielleicht vor Angst, vielleicht auch nur vor Verwunderung darüber, dass das arme kleine Mädchen derart auftrumpfte. Die Männer, die hinter Lisa standen, mischten sich nicht ein. So wütend Jenni auch war, die Gleichgültigkeit der Männer verwunderte und ängstigte sie.
Ein seltsamer schmatzender Laut war zu hören, als die Taschenlampe Lisas Lippen traf. Sie brüllte, als wäre sie aus einem Traum erwacht, und legte schützend die Arme um den Kopf. Jenni schlug erneut zu. Es war ein ungezielter kraftloser Schlag, doch sie wunderte sich immer noch, dass niemand ihr in den Arm fiel. Die Leute standen unbeweglich und lautlos da wie die Baumstämme hinter ihnen.
»Du hast Miro geschlagen«, murmelte Jenni und schlug zu,
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