Schatteninsel
bis sich irgendetwas von der Taschenlampe löste.
Sie warf die Lampe hin und musterte Lisa, die in die Hocke gegangen war und hin und her schwankte. Als sie sich mit einer Hand auf der Erde abstützte, tropfte Blut auf ihre hellgrüne Hose. Der Anblick bereitete Jenni einen derartigen Triumph, dass sie sich abwenden musste. Sie ging mit langen Schritten zum Haus, stolperte auf halbem Weg und warf einen Blick auf die Fenster. Hoffentlich hatte Miro nichts von dem Vorfall gesehen. Seine Mutter drehte nicht durch, niemals. Seine Mutter war so sicher wie der Erdboden.
Als Jenni die Haustür öffnete, blitzte im Türfenster ein Spiegelbild auf.
Lisa, die auf der Erde hockte. Ein Mann, der mit der Taschenlampe ausholte.
Übelkeit überflutete Jenni. Sie zog die Tür zu und verriegelte sie, vergewisserte sich mehrmals, dass sie fest verschlossen war, dass sie Lisa ausgesperrt hatte und die Insel und die Männer, die ihr nicht in den Arm gefallen waren.
Als Allererstes brachte Jenni Miro zu Bett. Mit flatternden Händen streichelte sie seinen Kopf, bemühte sich, das Zittern zu unterdrücken. Am Daumengelenk entdeckte sie einen dunklen Fleck, vielleicht von der Taschenlampe oder von der Tür in der Kapelle. Ihr Atem ging flach und verkrampft, als wäre ihre Lunge geschrumpft.
»Mutti«, sagte Miro schläfrig, die Augen halb geschlossen.
»Ja?«
»Ich bin nicht ausgerissen.«
Jenni stupste ihn ans Kinn.
»Ich weiß, Miro. Es war nicht deine Schuld.«
»Ich wäre nicht bei der alten Hexe mitgefahren, aberihr wart weg, Vati und du. Und sie hat gesagt, sie bringt mich zu euch.«
Jennis Hand hielt inne. Ihr wart weg .
»Ich hab nicht gewusst, dass ich nicht mitfahren durfte«, sagte Miro.
»Es war nicht deine Schuld«, wiederholte Jenni und küsste Miro auf die Stirn. »Schlaf jetzt.«
Ihre Erinnerungen an die Nacht waren verworren, ein Gemenge aus physischen Empfindungen und Bildern. Ein leises Zucken der Finger, prickelnde Haut, der Drang, sich immer wieder umzublicken. Jenni dachte an Miro, der im dunklen, leeren Zimmer erwachte. Bei dieser Vorstellung fühlte sie sich schuldig, doch das Schuldgefühl war nur ein schwacher, ferner Hauch. Es gab weitaus schwerwiegendere und bedrohlichere Fragen. Mit wem hatte Jenni gesprochen? Wem war sie in den Wald, ans Ufer, in die Kapelle gefolgt? Sie beobachtete ihre zitternde Hand, die mechanisch über Miros Haare strich. Ganz gleich, was geschehen war, es war ein Glück, dass Miro es nicht gesehen hatte. Dass er es verschlafen hatte.
Miro sagte noch etwas. Die Augen waren ihm schon zugefallen, die Lippen bewegten sich kaum. Jenni beugte sich über ihn.
»Was sagst du, Miro?«, fragte sie flüsternd.
»Warum warst du so?«
Jenni versuchte sich einzureden, dass Miros Worte sich nicht auf die Ereignisse der letzten Nacht bezogen.
»Was meinst du?«, fragte sie.
»In der Nacht … Warum warst du …«
Damit schlief Miro ein. Jenni hörte seinen gleichmäßigen Atem, wartete auf weitere Worte. Am liebsten hätte sie Miro wachgerüttelt, ihn gedrängt zu erzählen, was er gesehenhatte. Doch das wäre zu hart gewesen. Der Junge hatte genug durchgemacht, und Jenni als seine Mutter musste einsichtig sein und mit ihren Fragen warten, so wichtig sie auch waren. Sie musste die Ungewissheit ertragen.
Jenni schlug die Hände vor das Gesicht. Lange saß sie still da und versuchte, gegen die Erinnerungsbilder anzukämpfen, für die es jetzt noch keine Erklärung gab. Sie musste den Morgen abwarten.
Sie stand auf, schloss leise die Tür hinter sich und ging ins Erdgeschoss.
Ina, die im Wohnzimmer saß, stand besorgt auf, doch bevor sie etwas sagen konnte, bat Jenni sie, ein Auge darauf zu haben, dass Miro ruhig schlief und dass niemand ins Haus kam.
Unter der Dusche konnte Jenni die Augen nicht schließen, obwohl die Seife brannte. Die merkwürdigen Bilder rollten vor ihr ab, sobald die Shampooflaschen und die türkisfarbenen Kacheln aus ihrem Blickfeld verschwanden. Das in den Abfluss laufende Wasser erinnerte sie an die Geräusche in der Kapelle. Sie musste sich konzentrieren, musste herauszufinden versuchen, was sich abgespielt hatte, was im Gange war.
Jenni nahm den nächstbesten Bademantel vom Haken, zog ihn an und ging in die Küche.
Ina hatte Tee gekocht. Jenni versuchte sich in den alltäglichen Geruch zu versenken, in die flauschige Weichheit des Bademantels auf ihrer Haut, in das gedämpfte Summen der Klimaanlage, obwohl ihr selbst der Fußboden wie dünnes Eis
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