Schatteninsel
vorkam.
»Ich bin unter Drogen gesetzt worden«, sagte Jenni zu ihrer Teetasse und schaute aus dem großen Wohnzimmerfenster aufs Meer.
»Von wem? Von Lisa?«
Inas Stimme klang gepresst, ängstlich. Jenni nickte.
»Oder von Aaron. Ich war in der Nacht völlig durchgedreht und bin draußen herumgeirrt. Die haben versucht, Miro zu entführen.«
Ina seufzte verzagt.
»Das kann doch nicht sein. Ich verstehe nicht, was in Lisa gefahren ist, aber die beiden haben sich doch wohl nicht eingebildet, sie könnten …«
»Ich habe sie gesehen, da oben. Sie haben getuschelt und sich umarmt.«
Das Spiegelbild im Türfenster schoss Jenni durch den Kopf. Lisa, auf der Erde hockend, die erhobene Hand des Mannes. Das Gesetz der Schären.
»Aaron ist so«, fuhr sie fort. »Er wäre imstande, so etwas zu tun und dabei zu glauben, die Welt würde vor ihm zurückweichen wie das verdammte Rote Meer.«
»Hast du ihn angerufen?«
»Nein.«
Ina legte ihre Finger auf Jennis Hand. Auch sie zitterten. Wie konnte die eine Schwester die andere beruhigen, wenn beide so verängstigt waren?
»Was ist in der Nacht passiert?«, fragte Ina.
Jenni schüttelte den Kopf. Sie konnte es nicht erzählen, das war unmöglich, physisch unmöglich. Ihre Muskeln verspannten sich, sobald sie auch nur daran dachte. Sie schaute aus dem Fenster, sah das dunkle Meer und ihr Spiegelbild. Zwei verirrte kleine Mädchen und das Meer.
»Ich glaube, ich sollte die Polizei anrufen«, sagte Jenni. »Und zum Arzt gehen. Ich fühle mich gar nicht wohl.«
»Gehen wir erst mal schlafen«, schlug Ina vor. »Morgen bringe ich euch aufs Festland.«
Jenni nickte. Sie wusste, dass sie müde war, obwohl sie nichts spürte. Es war einfach zu viel passiert.
»Und Markus?«, fragte sie plötzlich.
»Was ist mit ihm?«
»Alles in Ordnung?«
»Natürlich«, sagte Ina und blickte instinktiv in die Richtung, in der sich Markus’ Zimmer befand. »Wieso?«
Jenni runzelte die Stirn und bemühte sich, klar zu denken.
»Warum hat Lisa Miro mitgenommen?«, fragte sie. »Warum nicht Markus? Ihren eigenen Sohn?«
Es blieb lange still.
»Ich weiß es nicht«, sagte Ina schließlich. »Die Lisa von vorhin … die war mir völlig fremd.«
Jenni dachte an Lisas Gesicht unmittelbar vor dem Schlag. Sie versuchte, Lisas Miene zu deuten, doch die Müdigkeit ließ ihre Gedanken im Kreis laufen.
»Gehen wir schlafen«, sagte Ina und stand auf.
Auf der Treppe merkte Jenni, dass ihre Beine sie kaum noch trugen. Sie legte sich zu Miro ins Bett, obwohl es eng wurde. Auch der Junge war so müde, dass sein Atem nicht einmal stockte, als sie seinen Kopf an die Brust zog und sofort einschlief.
Jenni spazierte am Ufer entlang. Der Sand war grob und dunkel, aber sie trug Badeschuhe. Ina ging neben ihr und erklärte ihr die Sache mit den Fischen. Sie seien so alt, dass sie vergessen hätten, worauf sie lauerten. Deshalb hätten sie sich in schwimmende Steine verwandelt.
Und wenn sie aufwachen? , fragte Jenni und blickte aufs Meer.
Ina lachte laut, als wollte sie jemandem signalisieren,dass alles in Ordnung war. Ihre Lippen machten ein seltsames, schmatzendes Geräusch. Sie hatte den Lippenstift so nachlässig aufgetragen, dass ihr Mund schief aussah.
Die wachen nicht auf. Es gibt Messgeräte, die sofort Alarm schlagen, wenn sie sich bewegen. Und zwar überall, einfach überall.
Jenni hörte zu, ohne auszusprechen, was sie dachte: Die Messgeräte helfen uns nicht. Wenn die Fische erwachen, können wir die Insel nicht verlassen.
Da rief jemand nach ihr. Sie wandte den Blick vom Meer ab und musterte den Strand.
Es war schwer, etwas zu sehen, denn der Wind wirbelte allerhand Abfall auf. Alte Zeitungen, zerfetzte Plastiktüten, gebrauchte Kondome, Sand. Der Müll wirbelte durch die Luft, flog auf und senkte sich wie ein Vogelschwarm.
Schreckliche Verschwendung , sagte Jenni und beschattete die Augen, doch auch das half nicht. Die heitere Landschaft war von sinnlosem Abfall getrübt. Jenni war sicher, dass irgendwo jemand stand und ihr zuwinkte. Jemand hatte sie gerufen.
Jenni blieb stehen. Sofort veränderte sich die Bewegung der durch die Luft wirbelnden Fetzen. Jenni begriff, dass es sich in Wahrheit um Schatten handelte. Dass sie die ganze Zeit in die falsche Richtung geschaut hatte. Wieso war ihr das nicht früher aufgefallen? Die Sonne schien hinter ihnen und warf die Schatten der aus dem Wasser aufsteigenden Wesen auf den Strand. Der Schwarm war riesig, er musste aus Tausenden von
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