Schatteninsel
Lebewesen bestehen. Die Schatten bewegten sich symmetrisch, wanderten über den Sand davon, machten dann kehrt und näherten sich ihr beängstigend schnell. Jenni tastete nach Ina, doch die war verschwunden.
Sie suchte nach einem bekannten Gesicht, nach irgendwem, und sah Markus, der weit weg an den Verkaufsbuden stand und die Arme schwenkte. Er sah erschrocken aus. Er bewegte die Lippen, aber Jenni hörte nicht, was er sagte, denn ein Rauschen erfüllte die Luft, wurde immer lauter, als ob eine große Welle anrollte. Markus zeigte hinter sich, auf einen jungen Mann, der zwischen den bunten Verkaufsständen herumirrte. Der junge Mann war mager und blass, er schwankte, als wäre er betrunken, klammerte sich an die Menschen, die ihm begegneten. Sie stießen ihn zurück. Niemand wollte mit ihm zu tun haben.
Im Traum wusste Jenni, dass er der erwachsene Miro war. Die Erkenntnis löste heftigen Schmerz aus und stürzte sie in Panik.
Dann wurde sie von einem formlosen, alles verschlingenden Regen eingehüllt.
Als Jenni erwachte, waren alle ihre Muskeln angespannt, ihr Rücken war gekrümmt, der Mund offen wie bei einem Schrei, doch es war nur ein Wimmern zu hören. Sie fiel aus dem Bett, konnte den Sturz aber im letzten Moment mit der linken Hand und dem Fuß abfangen. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihre Hüfte, als sie auf dem Fußboden aufkam.
Jenni setzte sich auf und sah sich verängstigt um. Alles war an seinem Platz. Miro, die Nachttischlampe, der Koffer, der Spiegel. Jenni sah die Dinge im Halbdunkel, betrachtete jeden Gegenstand einzeln, während sie ihre verkrampften Muskeln massierte. Vertraute Sachen, versuchte sie zu denken, wie würden sie wohl bei Tageslicht aussehen, im normalen, sicheren Licht.
Doch es war noch etwas im Zimmer.
Entgeistert sah Jenni den Gegenstand auf dem kleinen Schreibtisch an. Hatte ihn jemand dorthin gelegt, während sie schlief? Nein, der Schädel musste die ganze Zeit dort gelegen haben. In ihrer Verwirrung hatte sie ihn nicht bemerkt, als sie nach Miro suchte, und auch später nicht, als sie den Jungen ins Bett brachte.
Der Schädel stand schräg auf dem Tisch. Er schien nach draußen zu blicken, als hätte man einen Gelähmten im Rollstuhl ans Fenster gebracht, damit er die Aussicht genießen kann.
Durch einen Blick über die Schulter vergewisserte Jenni sich, dass Miro schlief, und stand auf. Sie stöhnte, als die Bein- und Rückenmuskeln sich nicht strecken wollten, wartete in gebückter Stellung, bis sie nachgaben, und ging dann zum Schreibtisch.
Jenni streckte die Hand aus und befühlte den Schädel. Ihre Fingerspitzen strichen über die in der Dunkelheit schimmernde Oberfläche, zeichneten die kleinen Risse nach. Jenni erkannte glasklar, dass der Schädel nicht aus Plastik war. Sie empfand weder Ekel noch Erschütterung. Es war nur eine kühle, klare Erkenntnis. Eigentlich hatte sie es von Anfang an begriffen: Markus hätte sich nie mit Plastikspielzeug abgegeben.
Unter dem Schädel blitzte etwas hervor, eine helle Farbe, vielleicht Gelb.
Jenni schob den Schädel zur Seite. Er rutschte und legte sich ein wenig schräg, kippte dann um. Rasch zog Jenni die Hand zurück.
Auf dem Tisch lag ein gelber, handschriftlich beschriebener Notizzettel. Es war zu dunkel, um die Worte lesen zu können. Der Zettel war an einen größeren, flachen Gegenstand geheftet. Vorsichtig berührte Jenni ihn. KleineKrümel knirschten unter ihren Fingern, die über raue Pappe fuhren. Jenni fasste die dünne Mappe am Rand, hielt sie schräg, wischte die Oberfläche mit einer raschen Bewegung ab und schlug die Mappe auf.
Darin lag ein einziges Blatt Papier. Eine langweilig ordentliche Liste, altmodisch auf der Schreibmaschine geschrieben.
Jenni drehte das Papier hin und her und versuchte zu verstehen, was es ihr sagen sollte. Dann schlug sie die Mappe wieder zu und sah sich den gelben Zettel näher an, drehte ihn zum Fenster hin, bis sie die Worte entziffern konnte.
Dummes Mädchen , stand darauf. Die wollen dein Kind .
Die Handschrift war akkurat. Sie stammte von jemandem, in dessen Generation Männer und Frauen noch unterschiedlich schrieben.
Verschwinde, so schnell du kannst.
S eht euch an, sagte Jakob zu den Männern, die sich am Feuer wärmten. Seht euer elendes Leben an, eure Plackerei und eure windgegerbten Gesichter, eure sinnlose Eile. Könnt ihr euch ansehen?
Die Männer verstanden nicht, was er meinte. Jakob setzte sich hin und vergrub das Gesicht in den Händen. Er gab
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