Schatteninsel
zunächst nur rot. Dann sah er die Augen.
Ihre Menge war unfassbar. Sie schwammen im roten Schein, unbeweglich und starrend, als warteten sie auf den richtigen Moment.
Jakob weinte und betete, der Herr möge ihn nicht den im Meer schwimmenden Dämonen ausliefern, sondern ihm erlauben, sich zu züchtigen und Sühne zu tun. Er gelobte, für immer auf dieser Insel zu bleiben und jeden Stein und jeden Baum zum Lobe des Herrn zu heiligen und sich unablässig mit dem Korn des Hasses zu peinigen und keinen Sündigen ungestraft zu lassen, all das schwor er zu tun, wenn der Herr nur den glühenden Dämon des Wassers daran hinderte, ihn zu verschlingen.
Da ermattete die Kraft.
Jakobs Körper zuckte, als hätte eine unsichtbare Hand ihn losgelassen, und er fiel nach hinten. Sein Rücken schlug gegen einen Felsen, die Luft entwich aus seiner Lunge.
Am Morgen ging Jakob ans Ufer. Er setzte sich, nahm den Spiegel und betrachtete sein zitterndes Bild, das vor Entsetzen starre Auge und die von getrocknetem Speichel gesprenkelten Lippen. Er nahm ein Korn aus dem Beutel und steckte es in den Mund. Dann ein zweites. Ein drittes. Die Fischer beobachteten sein Tun mit furchtsamer Neugier.
»Nun stelle mich auf die Probe, Herr«, sagte Jakob und zerbiss die Körner.
Als er endlich aus der Schlucht des Hungers und der Halluzinationen auf den Uferfelsen zurückkehrte, fiel bereits die Dämmerung. Die Fischer umringten ihn.
Einer von ihnen trat näher und fiel vor Jakob auf die Knie.
»Heiliger«, sagte er und streckte die Hand aus.
Auf seiner Handfläche lag Jakobs Spiegel. In ihm spiegelten sich der dunkler werdende Himmel und die leere Augenhöhle des Propheten.
J enni konnte das Gesicht der Frau nicht sehen, doch die Gestalt kam ihr bekannt vor. Dieser Eindruck half ihr, sich zu konzentrieren, er hielt die Flut der seltsamen Erinnerungsbilder irgendwo am Rand des Bewusstseins zurück, wo sie Jenni nicht mit sich reißen konnte.
»Alles in Ordnung«, sagte die Frau. Sie zwang Jenni, sich auf einen Felsen zu setzen, und gab ihr ihren eigenen Mantel. »Jetzt hast du es geschafft.«
Der Akzent verriet Jenni, wer die Fremde war: Die Frau mit dem Mundgeruch. Jenni fasste nach ihren Handgelenken und klammerte sich an ihnen fest, um ihr Zittern zu unterdrücken.
Doch das Zittern wollte nicht aufhören, sein Kern saß zu tief in ihr.
»Der Junge, erinnerst du dich an den Jungen?«
Die Frau antwortete nicht.
»Hast du den Jungen gesehen? Meinen Sohn?«
»Keine Sorge. Gehen wir ins Warme«, sagte die Frau.
»Ich muss mein Kind finden.«
»Der Junge ist in Sicherheit. Gehen wir ins Warme.«
Die Frau zog Jenni hoch und sprach von ihrem Haus, das ganz in der Nähe sei. Dort gebe es ein Telefon und einen Kamin und Tee. Nichts davon interessierte Jenni. Sie erinnerte sich an das dunkle Gästezimmer in Markus’ Haus,an das Gefühl, ganz allein dort zu sein, an Miros fliehende Gestalt. So etwas konnte nicht passieren, es musste ein Traum oder eine Halluzination gewesen sein, vielleicht drehte sie durch, egal, wenn nur Miro dort war.
Jenni riss sich los und lief schwankend davon. Die Frau rief ihr etwas nach, aber das war ohne Bedeutung, denn die Beine fanden bald den richtigen Rhythmus und trugen sie in rasendem Tempo zum Waldrand und zu dem Pfad, auf dem sie mit Miro ans Ufer gegangen war. Die Anstrengung überdeckte das Zittern, die Lunge schmerzte, die Gedanken wurden mit jedem Schritt klarer. Sicher waren ihre Nerven durch den Besuch auf der Insel angegriffen, die Furcht und das Schuldgefühl hatten dazu geführt, dass sie sich von Trugbildern narren ließ. Miro war im Haus und wunderte sich, wo seine Mutter steckte. So musste es sein.
Das Haus war bereits zwischen den Bäumen zu sehen. Jenni beschleunigte ihre Schritte und schämte sich schon im Voraus für ihr albernes nächtliches Umherirren.
Vor dem Haus stand kein einziger Wagen. Sie sind losgefahren, um mich zu suchen , dachte Jenni und lachte freudlos, wie man es tut, wenn einem klar wird, dass man überreagiert oder Unsinn geredet hat in normalen alltäglichen Situationen.
Sie ging zur Haustür und drückte die Klinke herunter. In der Diele rief sie, alles sei in Ordnung, ging in das Esszimmer und in die Gästezimmer im Erdgeschoss und stöhnte jedes Mal, wenn sie wieder einen Raum leer vorfand.
Sie lief die Treppe hinauf und ging in ihr Zimmer, sah, dass alle Koffer und Sachen an ihrem Platz waren, nur Miro fand sie nicht, obwohl sie die Decke hochhob undsich auf
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