Schatteninsel
konnte. Das Wasser reichte ihm bereits bis an die Schultern, und die höchsten Wellen rollten über seinen Kopf hinweg.
Als er gut die Hälfte der Strecke geschafft hatte, schwankte der Mann. Ein dumpfes Dröhnen war zu hören, als seien unter Wasser Felsbrocken von ihrem Platz gerollt. Der Mann begann zu schreien und zu strampeln, das Wasser um ihn herum schäumte. Die anderen Fischer betrachteten den Kampf ihres Gefährten zunächst belustigt, erkannten jedoch bald, dass sein Fuß eingeklemmt sein musste. Sie warfen Netze und Werkzeug hin und wateten zu ihm.
Die Köpfe verschwanden im Wasser, kamen dann wieder zum Vorschein. Jakob hörte nicht, was sie sagten, begriff aber, dass das Bein des Mannes unter einem großen Stein eingeklemmt war. Offenbar war er auf einen losen Felsbrocken getreten, der auf seinen Fuß gerollt und dort liegen geblieben war. Einer der Helfer watete ans Ufer und suchte nach einem Stück Holz, das sich als Hebel eignete. Damit kehrte er zu den anderen zurück. Die Männer setzten sich allesamt auf den Hebel, doch der Versuch scheiterte. Das Gewicht von vier kräftigen Männern reichte nicht aus, den Stein zu verrücken.
»Wir müssen es abtrennen«, rief einer. »Der Seegang wird immer höher. Wir müssen ihm das Bein abtrennen.«
»Nein«, heulte der Mann auf. »Ich will nicht als Einbeiniger zum Jüngsten Gericht. Wenn ihr es versucht, ertränke ich mich.«
Es folgte ein heftiger Streit. Der Bruder des Opfers verfluchte den Wind, die Wellen und die Dummheit, die seinen Bruder dazu getrieben hatte, zur Insel zu waten, statt eins der beiden Boote zu nehmen.
»Wir müssen warten, bis sich der Sturm gelegt hat«, meinte einer der Fischer. »Gott steh ihm bei.«
Die Männer kehrten ans Ufer zurück. Keuchend und zitternd und triefnass beobachteten sie den Kampf ihres Gefährten. Jeder von ihnen wusste, dass der hohe Seegang tagelang, wenn nicht gar mehrere Wochen anhalten konnte.
Jakob verfolgte den tapferen Kampf des Mannes voller Verwunderung und überlegte, was der Herr ihm mit diesem Anblick sagen wollte.In der Nacht schwollen die Rufe des Mannes überraschend zu gellendem Heulen an. Jakob wurde von einer rastlosen Bewegung geweckt und kroch aus der Hütte.
Das Meer flammte feuerrot. Jakob richtete sich auf und betrachtete das Wunder mit angehaltenem Atem. Die Männer hatten sich am Ufer versammelt. Sie riefen den Namen ihres Gefährten, obwohl sie ihn nicht sahen. Vom Schein des Meeres abgesehen, war die Nacht lichtlos. Die Klage des Mannes hielt an, so herzzerreißend, dass einige der Fischer in die Hütte zurückkehrten und beteten.
Jakob war entsetzt, aber seine Glieder waren wie erstarrt. Kein einziger Muskel wollte sich bewegen.
Herr, warum zeigst du mir dies?
Seine Beine blieben so fest auf der Erde, als wären aus den Fußsohlen Wurzeln gewachsen und hätten sich in die Felsspalten gekrallt.
Warum zwingst du mich zuzuschauen?
Die rote Glut wogte hin und her. Jakob dachte an das dumpfe Geräusch, das den Unfall des im Meer gefangenen Mannes begleitet hatte. Vielleicht hatte sich auf dem Meeresboden ein Riss gebildet. Vielleicht strömten vor ihren Augen das ewige Feuer der Hölle und alle darin lebenden Wesen ins Wasser.
Jakob nässte sich ein. Der Urin, der ihm am Bein hinablief, war kalt wie schmelzendes Eis. Sein ganzer Körper begann zu zittern. Die Gewissheit der Errettung war plötzlich fort, aus Jakobs Brustkorb gestohlen, wo nur eine leere, frostige Höhle zurückblieb, die bis in die Fingerspitzen Kälte ausstrahlte.
Die roten Wellen. Das Höllenfeuer. Das wollte der Herr ihm zeigen. Seine Farbe war tief und unendlich, wie dieoffene Halsschlagader des Israel Ulstadius, wie der gespaltene Schädel des Apothekers Arvid Langelin.
Ihr seid nicht unschuldig.
Die Augen der im Salz dahinsiechenden Fische.
Vielleicht ist in dem glühenden Ofen auch für Euch ein Platz bereitet.
Jakobs linker Fuß machte einen Schritt nach vorn. Es war eine unwillentliche Bewegung, von einer höheren Macht gelenkt. Der rechte Fuß folgte. Die Fischer wandten sich zu Jakob um, machten ihm Platz, als er auf das Ufer zuging, gegen seinen Willen und in der Überzeugung, dass dies sein letzter Gang war, dass sein Name doch nicht im Buch des Lebens verzeichnet stand, dass doch nicht jede seiner Bewegungen vom Herrn gesegnet war.
Tage, Wochen, Ewigkeit.
Am Ufer machten Jakobs Schritte Halt. Die Schnur seines linken Schuhs war bereits im Wasser, wirbelte in der Gischt. Jakob sah
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