Schatteninsel
HERR SEINEN ZORN AUFFLAMMEN ÜBER SEINEM VOLK UND IHR STOLZ UND IHRE LÜSTERNHEIT VERGEHEN WIE TROCKENES GRAS IN EINER SCHWARZEN FLAMME.
Darunter waren monatsweise Namen aufgeführt.
Januar:
Gustav Brådd
Carita Brådd
Kinder dispensiert (unter sieben Jahre)
Jenni hielt die Liste näher an die Augen, als verbärge sich zwischen den Linien der Buchstaben ein entscheidender Hinweis. Juni:
Stefan Beijar
Maria Beijar …
Jenni begriff nicht, warum man ihr diese Liste zugespielt hatte. Was hatte sie mit Miro zu tun? Ihr Blick fiel auf den Monat am unteren Rand der Seite und auf die Namen, die mit einer sauberen Linie eingekreist waren.
August:
Lisa Suvanto
Aaron Kangas
Jenni Kangas
»Was soll das?«, fragte Jenni und begriff, dass sie aus irgendeinem Grund die Vorstellung hatte, hinter ihr sei jemand, der ihr Antwort geben konnte. Neben den Namen stand in Handschrift: Am zweiten und dritten Tag mit Brot und Fisch, überdeckt mit Farinsocker und Salt …
»Was zum Teufel …« Jenni lachte auf wie jemand, der merkt, dass ihm ein genialer Streich gespielt wird, aber noch nicht erkennt, was dahintersteckt.
Der Sünde teilhaftig, von allen zu sühnen …
Eine fremde Handschrift. Und doch vertraut. Die Worte sprangen von einer Sprache zur anderen, als wären sie auf Schwedisch diktiert worden. An der unteren Ecke des Bogens befand sich eine seltsame Zeichnung, die sicher nicht für fremde Augen bestimmt war. Etwas, was man halb unbewusst hinkritzelte, wenn man am Telefon war und längst verstanden hatte, was der Anrufer wollte, aber aus Höflichkeit weiter zuhörte. Das Bild zeigte ein Mädchen mit Engelsflügeln und einer Kerzenkrone.
Jenni merkte, dass sie sich vor und zurück wiegte. Sie drehte sich um und wollte jemanden anschreien, der hinter ihr stand, doch da war niemand.
Lisa, Aaron, Jenni. Alle außer Miro und …
Wer fehlt auf dem Bild? Der Bi-Ba-Butzemann! Sehr gut, Miro!
Jenni drehte sich um und betrachtete ihr Spiegelbild. In ihren müden Augen lag Verblüffung, vielleicht auch so etwas wie eine Erkenntnis, zu vage, um sie bewusst zu fassen.
Hau ab, bevor es zu spät ist.
Jenni wiederholte die Worte dreimal. Sie zwang sich zu einem Lächeln. Die Haltung der Gesichtsmuskeln beeinflusste die Stimmung. Keine Angst, kein Grund zur Panik. Dennoch kam es Jenni vor, als hätte sie sich in eine Fremde verwandelt.
Sie legte den Bogen wieder in die Mappe, löschte das Licht im Bad und ging langsam zum Treppenabsatz. Das Haus summte leise. Leg dich wieder hin , schien es zu sagen. Mach dir nicht zu viel Gedanken.
Jenni schlich an die Tür zum Gästezimmer und spähte hinein. Sie wartete, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie sehen konnte, dass Miro im Bett lag und ruhig schlief. Er atmete tief und gleichmäßig. Jenni ging die Treppe hinunter und klopfte an Inas Zimmertür. Zuerst leise, dann fester. Als nichts geschah, öffnete sie die Tür.
Inas Bett war leer.
Jenni sah es lange an, blickte dann über die Schulter in den Flur, in beide Richtungen, und lauschte. Keine Schritte, nichts. Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich hin.
»Ina?«, flüsterte sie und erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Sie klang, als wäre sie wieder ein Kind und riefe nach ihrer Schwester. Als wäre dieses fremde dunkle Haus ihr Zuhause. Vater und Mutter wären ausgegangen. Sie würden spät nach Hause kommen, im Taxi, und sich lallend streiten. Jenni würde Ina trösten, die bei jeder Kleinigkeit weinte. Ihr Wispern würde Ina in den Schlaf wiegen.
Jenni stand auf und ging die Treppe hoch. An der Tür zu Markus’ Arbeitszimmer blieb sie stehen.
Ich habe die Papiere und die Fotos im Arbeitszimmer gesehen …
Lisas Worte kamen ihr in den Sinn, das aufgeregte Flüstern, das sie belauscht hatte.
Das ist krank, Markus …
Jenni legte eine Hand auf die Klinke. Als sie sie wieder hob, öffnete sich die Tür wie von selbst. Sie blieb eine Weile auf der Schwelle zu dem dunklen Raum stehen und überlegte. Der Totenkopf war hier gewesen. Irgendwer hatte ihn und die Mappe in das Gästezimmer gebracht, aus einem ganz bestimmten Grund. Jenni suchte nach dem Lichtschalter, doch irgendetwas warnte sie davor, Licht zu machen. Sie musste vorsichtig sein, denn eigentlich hätte sie das Zimmer nicht betreten dürfen.
Jenni ging hinein und begann zu suchen. Sie zog Schubladen heraus, ließ sie auf den Boden fallen. Papiere flogen auf den Teppich, landeten raschelnd auf den Dielen. Jenni durchwühlte sie
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