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Schatteninsel

Schatteninsel

Titel: Schatteninsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marko Hautala
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blindlings. Zeitungsausschnitte über die Insel, Notizen in Markus’ Handschrift. Souvenirs von früheren Reisen. Ein Messer mit Holzgriff in einer Scheide, eine kleine Marienstatue, Tand.
    Fotos.
    Jenni nahm den Stapel in die Hand und blätterte ihn durch.
    Die Gesichter unbekannter Menschen blitzten auf, verschwanden unter dem Stapel, tauchten wieder auf.
    Sie trat näher ans Fenster, durch das Mondlicht fiel.
    Die Bilder waren Jahrzehnte alt, ihre Farben verblichen. Jenni musste an die Fotoalben aus ihrer Kindheit denken, die ihr Vater vielleicht immer noch aufbewahrte und gelegentlich betrachtete, betrunken und voller Selbstmitleid. Auf einem Bild lächelte eine Frau in seltsamer, altertümlicher Kleidung in die Kamera. Hinter ihr war ein Steinhaufen zu sehen, am Bildrand, abgeschnitten, ein zweiter. Jenni betrachtete das nächste Foto.
    Es war so verwackelt und aus großer Entfernung aufgenommen, dass sie die Augen zusammenkneifen musste, um zu erkennen, was es zeigte. Am Meeresufer hatten sich Menschen versammelt, die etwas über den Kopf hielten. Jenni glaubte, Banderolen zu erkennen, wie man sie bei Demonstrationen trug. Aber wogegen hätten die Leute am Ufer protestieren sollen, etwa gegen das Meer? Im Meer stand eine nackte Gestalt, vielleicht eine Frau, die Arme um sich geschlungen. Bis zur Hüfte im Wasser. Ihre Haltung deutete darauf hin, dass sie entsetzt war. Vielleicht weinte sie. Das Foto strahlte etwas so Grausames aus, dass Jenni es nicht länger ansehen wollte. Diese öffentliche Demütigung, die Leute mit weit aufgerissenem Mund, als ob sie sängen.
    Jenni betrachtete das letzte Foto.
    Darauf war dieselbe junge Frau wie auf dem ersten Bild. Neben ihr stand ein schwarzhaariger Mann mit kantigem Gesicht und finsterem eindringlichem Blick. Die beiden standen im Mittelgang einer Kirche. Das Altarbild im Hintergrundwar nur undeutlich zu sehen, doch Jenni erkannte es.
    Die Frau betrachtete das Wickelkind in ihren Armen und lächelte traurig.
    Jenni starrte auf das Foto, wartete darauf, dass es sein Rätsel preisgab.
    Die Frau konnte höchstens zwanzig sein, vielleicht noch jünger. Von dem Gesicht des Kindes war nur ein schmaler Streifen zu sehen. Auf dem Gesicht der Frau lag ein verwirrtes Lächeln. An der unteren rechten Ecke des Fotos war eine dunkle Erhebung zu sehen, vielleicht die Schulter von irgendwem. Auf den ersten Blick hätte man die Frau für eine glückliche Mutter halten können, die nur ein wenig unsicher war, vielleicht verblüfft von der Aufmerksamkeit, die ihre spontane, instinktive Liebe fand. Doch das Lächeln stand im Widerspruch zu ihrem Blick.
    Hau ab, bevor es zu spät ist.
    Jenni drehte das Foto um.
    Auf der Rückseite stand etwas. Sie erkannte Markus’ Handschrift sofort.
    Meine verräterische Mutter Lisa Maaria Kangas, geb. Suvanto * 1953 .
    Mein wahrer Vater Jonas Mört * 1949 † 1984 aus der Geschlechtslinie des Propheten und auserwählt.
    Jenni las den Text wieder und wieder, verstand ihn aber nicht.
    Lisa. Und der wahre Vater. In Lisas Armen Markus.
    Sie drehte das Bild wieder um und musterte das Gesicht der jungen Frau. Konnte das wirklich Lisa sein? Es gelang Jenni nicht, die Gesichtszüge mit der Frau in Verbindung zu bringen, die am Tag ihrer Ankunft auf der Insel aus dem Auto gestiegen war.
    Verräterische Mutter. Wahrer Vater.
    Erneut betrachtete sie das Foto.
    Lisa, Markus auf dem Arm. Doch der Mann neben ihr war nicht der junge Aaron.
    Der hässliche Mann und Vati und Vati.
    Jenni ließ das letzte Bild fallen, schlich vorsichtig zur Tür, ging ins Gästezimmer. So sanft wie möglich weckte sie Miro.
    »Ich will nicht«, protestierte der Junge, doch Jenni fasste ihn unter den Achseln, zog ihn hoch und sagte, er solle sich anziehen.
    Sie warf einen Blick aus dem Fenster und sah Inas Wagen. Lisa war wohl mit ihrem eigenen weggefahren oder abtransportiert worden. Jenni zog Miro das Hemd über, summte dabei vor sich hin. Sie zuckte zusammen, als der Stoff sie elektrisierte. Sekundenlang erkannte sie den Kopf, der aus dem Halsausschnitt hervorkam, nicht wieder. Ihr Gehirn mühte sich ab, als müsste es ein Bilderrätsel lösen. Dann war Miro wieder da.
    »Warte hier«, flüsterte Jenni. »Mutti geht kurz nach unten.«
    Der Schlüssel hing an dem kleinen Schlüsselbrett. Jenni erinnerte sich daran, wie sie mit Ina und Miro vom Einkaufen zurückgekommen war, an das helle Tageslicht und an Inas routinierte Bewegung, als sie den Schlüssel aufhängte. Sie holte Miro

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