Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenjagd

Schattenjagd

Titel: Schattenjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilith Saintcrow
Vom Netzwerk:
der Schattenseite lauert. Und kein Lehrer kann das wollen. Einen Mitjäger zu verlieren ist schlimm.
    Einen Lehrling zu verlieren ist tausendmal schlimmer.
    Michails geisterhafte Stimme zu hören war also gleich zweifacher Trost für mich. Auch ich gab einen Laut von mir. Einen leisen Schmerzenslaut, als hätte jemand auf mich eingestochen. Die Haut über meinen Knöcheln brach auf, fing an zu bluten und hinterließ feuchte Abdrücke auf dem dicken roten Plastik. Das Blut würde den Ring verkrusten, den Michail mir gegeben hatte, als er mich als Lehrling akzeptierte, den Ring, der eine dünne, mitleidvolle Klage ausstieß, als er meinen feurigen Schmerz spürte. Der geschliffene Rubin spuckte einen Funken nach dem anderen, jeder einzelne ein Feuerwerk der Enttäuschung.
    Schweiß tropfte mir in die Augen, brannte, doch ich schlug immer weiter auf den Sack ein. Es klingelte an der Tür, aber ich ignorierte es. Jeder, der jetzt an meine Pforte klopfte, würde entweder reinkommen und sich erschießen lassen müssen oder wieder verschwinden.
    Schlag mit Ellbogen, hart, mehr Anspannung, schlag zu, so dass sie es auch merken! Aber doch nicht so, willst du deine verfluchte Hand verlieren?! Anspannung! Gut so! Weiter so! Genau! – Michails Drill drang durch das quälende Fenster in meiner Erinnerung zu mir. All die Jahre harten Trainings fielen von mir ab, bis ich wieder das kleine Mädchen war, das an der Straßenecke stand. Kalter Wind wehte gegen meine nackten Beine, während die Autos vorbeikrochen, in denen die Männer mit den gierigen Augen saßen.
    Das mausgraue, kleine, braunäugige Mädchen mit den dürren Beinen und der großen Klappe. Nicht ich. Nicht Jill Kismet, die jeden in den Arsch tritt.
    Nicht ich. Nicht mehr.
    Das grässliche Jammern verstummte. Meine Hände pochten. Die Schläge verebbten langsam, ich verpasste dem dicken Sack einen letzten Hieb – die Narbe auf meinem Handgelenk sprühte vor Hitze, und ich traf solide mitten ins Schwarze. Mit gesenktem Kopf stand ich da und zitterte, während Schweiß meine Kleidung durchtränkte, während die aufgerissene Haut sich wieder schloss und schmerzlich heilte.
    „Herrgott“, krächzte ich und brach zusammen. „Herr im Himmel. Jesus. Gott.“
    Da hörte ich ein Geräusch. Die Tür im Ostflügel öffnete sich, die Vordertür, die einzige Tür, die zur Straße hin lag – nicht abgeschlossen, weil ich mich so beeilt hatte. Jemand schlich im Gang herum, vermutlich ein Mensch.
    Ich wirbelte hoch, zog meine Pistolen, und als ich sie aus ihren Lederhüllen riss, verursachte das im höhlenartigen Aufbau der Lagerhalle einen ohrenbetäubenden Lärm. Ächzend schaukelte der Sandsack vor und zurück.
    Am anderen Ende des Flurs, mit der Tür im Rücken, stand ein dünnes braunhaariges Mädchen, dessen Gesicht ein grauenhafter Bluterguss überdeckte. Es dauerte eine Weile, bis ich sie trotz der blauen Flecken, der aufgeplatzten Lippe und den gequälten kleinen Seufzern erkannte, die sie ausstieß, bevor sie rasselnd Luft holte.
    Es war Diamond Rickys Nummer eins.
    „Verfluchte Scheiße“, schrie ich und meine Stimme donnerte ungehindert durch den Raum. „Was hast du hier verloren?“
    Sie fuhr zusammen und hob die Hände. Über ihrer dünnen Schulter hing ein schäbiger Rucksack. Auch ihre Beine waren übersät mit Prellungen und kleinen Wunden. Dazu trug sie einen kurzen pinken Rock und einen löchrigen grünen Pulli -das Abbild einer Frau, die keinen Ausweg mehr sieht.
    Und ich wusste nur zu gut, wie sich das anfühlte, nicht wahr? Auch ich hatte so ausgesehen, als ich im brennenden Schnee stand – mein Leben ein Scherbenhaufen – und es niemanden gab, an den ich mich wenden konnte.
    Damit war es amtlich. Perry hatte mich aus der Reserve gelockt, und die Vergangenheit war gerade dabei, mich mit Volldampf einzuholen und zu verschlingen. Mit Gewalt riss ich mich von den alten Eindrücken los, was mich so viel Kraft kostete, dass ich schon wieder ins Schwitzen kam. Rücken und Achselhöhlen waren nass.
    Dieses Mädchen, es würde nie erfahren, wie knapp es einer Kugel entgangen war.
    Guter Gott. Es wurde wieder ruhig, nachdem das Echo von Wänden und Decke zurückgeprallt war. Ich holte tief Luft. Beißende Schweißperlen tropften mir in die Augen. „Himmel.“ Schließlich bekam ich meine Stimme einigermaßen unter Kontrolle. „Was zum Teufel machst du hier?“
    Sie verzog das Gesicht. Ihre großen braunen Augen waren weit aufgerissen und sprudelten über vor

Weitere Kostenlose Bücher