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Schattenjagd

Schattenjagd

Titel: Schattenjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilith Saintcrow
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ziehst du diese Nummer ab? Der Gedanke, dass er tatsächlich einen Weg gefunden haben könnte, um mich nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, war gelinde ausgedrückt eine Horrorvorstellung. Ich würde dieses ganze Abkommen völlig neu angehen, einen neuen Weg finden müssen, mit ihm fertig zu werden.
    Als hätte ich nicht schon genug am Hals.
    Na ja, vielleicht kam er nur deshalb an mich ran, weil ich im Moment verletzlich war, weil mir dieser Fall an die Nieren ging, und zwar mehr, als ich bereit war, zuzugeben. Ich ließ mich ihm gegenüber in den Sessel sinken, die Messerschneide reflektierte buntes Licht: das Blau der Bildschirme, das Rot der getönten kugelsicheren Scheibe und das goldene Leuchten der Spots.
    „Der Tag wird kommen.“ Er sprach sehr leise, sehr sanft und beinahe menschlich. „Der Tag wird kommen, Kiss, an dem du dir die Frage stellen musst, wie ähnlich du mir werden kannst, bevor du aufgibst.“
    „Du kannst mich nicht bekehren, Perikles.“ Doch meine Kehle fühlte sich so trocken wie Sand an. Denn ich wusste es besser. Wenn er seine neue Taktik noch ein wenig verfeinerte, könnte es schlüpfrig werden.
    Dann würde ich ihn töten müssen.
    „Das brauche ich gar nicht. Du selbst wirst dich verändern, wenn die Zeit reif ist. Und jetzt sei still. Ich will dir beim Atmen zuhören.“ Jede Erinnerung an etwas Lebendiges in ihm verschwand, sickerte aus ihm heraus, bis er nur noch ein Abbild war, gemalt auf das Weiß des Leders. Ein schwarz besprenkelter Abklatsch von einem Lebewesen, die Arme eng an die Seiten gepresst. Das Silber in meinem Messer musste geschmerzt haben wie die Hölle selbst, auch dann noch, als die Wunde bereits heilte.
    Es war das allererste Mal, dass wir hier saßen, Perry und ich, und er schwieg. Ebenso wie ich. Und als die zwei Stunden um waren, ging ich. Lief bis zur Eisentür am Ende der Treppe, legte das Armband wieder um und fing an zu rennen. Ja, ich hatte es Saul versprochen.
    Aber ich hielt es hier keine Sekunde länger aus.

16
     
     
    Ich rannte noch immer, als das Taxi hinter mir fortfuhr und ich durch die Eingangstür stürmte. Meinen zerschlissenen, ruinierten Mantel warf ich über den üblichen Stuhl am Ende des Flurs und stapfte in den Fitnessraum. Das Knarzen und Hallen des Warenlagers, das auf meine Rückkehr reagierte, nahm ich kaum wahr.
    Die abgewetzten roten Seiten des verstärkten Sandsacks, der von der Decke baumelte, waren schon mehrere Male mit neuen Streifen repariert worden. Noch bevor ich ihn erreichte, waren meine Hände schon so fest zu Fäusten geballt, dass ich meine Knochen knacken hörte.
    Dann legte ich los. Von Leder und Plastik schallte dumpfes Patschen. Die Talismane in meinem Haar klimperten. Linker Haken, Uppercut, rechter Haken, Kombinationen, die Michail mir beigebracht hatte. Mein zweitbestes Paar Stiefel rieb über die Bodenmatten, der Sandsack bebte und mir lief der Schweiß über Rücken, Arme und Beine.
    Ich hörte die Stimme meines Lehrers, geprägt vom harschen Singsang des Gossenrussisch, doch in der Sprache, die wir beide teilten. Benutze es, nutze es, nutze es! Wut ist dein bester Freund! Du solltest das im Schlaf hinkriegen, Milaya. Benutze sie! Schlag das Ding zusammen! Töte es! Tu es!
    Wie hatte er nur erkennen können, dass Potenzial in mir steckte, in diesem verängstigten, dürren, verprügelten Mädchen im Schnee? Er hatte es mir nie verraten.
    Natürlich hatte ich auch nie danach gefragt, zu dankbar war ich, dass er sich meiner angenommen hatte. Zu dankbar für die Aufmerksamkeit, die er mir schenkte, nach der ich schon völlig ausgehungert war. Man erwartet von uns, dass wir unsere Lehrer lieben, sonst wäre die Ausbildung schlicht unerträglich. Du musst deinem Meister von ganzem Herzen und aus ganzer Seele vertrauen, wenn er das andere Ende des dünnen, dehnbaren Silberseils halten soll, das dein einziger Weg zurück aus der Hölle ist, wenn du erst einmal hinabgestiegen bist. Und auch Michail und ich waren Geliebte gewesen – es war unvermeidbar, bei so viel Adrenalin und andauerndem Kontakt: zwei Menschen, die sich näherstanden als Geschwister, Ehepartner oder sogar Zwillinge.
    Genauso erwartet man aber auch von uns, dass wir unsere Meister hassen, denn sie müssen uns das Kämpfen lehren. Ein Lehrer kann es sich schlicht nicht leisten, sich mit seinem Lehrling anzufreunden. Im Trainingsraum mit Nachsicht behandelt zu werden, bedeutet, dass man nicht vorbereitet ist auf das, was in den finsteren Tiefen

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