Schattenjagd
ab.
Die kühle Luft, die über die Narbe strich, schickte mir einen Schauer über den Rücken. Ich stopfte das Armband in die Hosentasche und griff mit links nach meiner Zweitwaffe. Dann schritt ich hinein in den Pesthauch des Todes.
Atmen. Verflucht, Jill, atme! Der Gestank geht gleich vorüber.
Aber mir war klar, dass dem nicht so sein würde. Ganz bestimmt nicht. Die Rezeptoren in meiner Nase würden vielleicht dichtmachen, aber der Gestank würde bis in meine Haut dringen. Und sogar noch tiefer, würde sich in mein Gedächtnis fressen. Wie viele Leichen gab es hier?
Bitte, bitte lass es nur eine oder zwei sein. Was hältst du davon, Gott? Doch noch während ich über die Schwelle in das flackernde Neonlicht eines ganz normalen Wartezimmers trat, war mir klar, dass es mit Sicherheit mehr waren. Kein Wunder, dass die Klinik so lange nicht geöffnet hatte.
Die Luft war so stickig und dick, dass man sie zerschneiden konnte. Ich wagte einen Blick hinter den Anmeldeschalter – niemand da. Neben einer Tastatur, unter einem dunklen Monitor, lag ein Stapel Akten. Gerne hätte ich sie mir näher angesehen, aber Regel Nummer eins bei der Sicherung eines Tatorts ist, sich zuallererst nach Überlebenden umzusehen. Auch wenn ich nicht daran glaubte, welche zu finden. Nicht bei diesem Gestank.
Ich spähte den Flur hinunter, und um ein Haar hätte ich die Kanonen fallen lassen. „Guter Gott“, flüsterte ich, was ich sofort bereute, weil die Ausdünstungen des Todes sich jetzt auch noch ihren Weg durch meinen Mund bahnten. Und dann der Anblick …
Himmel, großer Gott, er brannte sich regelrecht in meinen Schädel!
Wie viele sind das? Arme, Beine … Das hier ist eine Fresshöhle. Oder zumindest war es eine. Der Geruch des Tieres verflog bereits, aber er war noch heftig genug, um mir die Tränen in die Augen schießen zu lassen. Ich konnte die verrottenden Gliedmaßen nur noch verschwommen sehen. Aufgerissene Münder, aus den Schädeln gerissene Augäpfel, Torsos, die man aufgeknackt hatte wie Nüsse …
Ich ließ die Pistolen auf meine Oberschenkel fallen und wich zurück. Oh, Gott. Großer Gott.
Während sich das Bild immer tiefer in mein Hirn fraß, fing meine Narbe an zu pulsieren, warm und feucht zu werden, als hätte eine raue Schuppenzunge darüber geschleckt. Ich trat einen weiteren Schritt zurück, prallte in etwas Weiches, fuhr vor Schreck herum und hob die Pistolen.
Perrys Finger schlossen sich um meine Handgelenke. „Ich bin’s nur, Kiss.“ Seine blauen Augen blickten an mir vorbei, als sich die Schwingtür hinter ihm wieder schloss und eine helle Strähne in sein Gesicht fiel. Er sah wieder aus wie früher, die Fransen in seiner Aura waren verschwunden. Aber natürlich gab es hier drin auch kein Sonnenlicht. „An diesem Ort gibt es nichts Lebendes mehr.“
„Es …“ Schwer legte sich das Aroma der Verwesung auf mich, und mir fehlten die Worte. Wie ranziges Öl bedeckte es meine Haut. „Gott im …“
„Gott ist nicht hier. Du solltest das am besten wissen.“ Sein Griff wurde fester, die Narbe war nun heiß und geschwollen. „Du warst katholisch, nicht wahr? Als Schulmädchen?“
Ich versuchte, mich von ihm loszureißen. Er packte stärker zu, aber trotzdem konnte ich meinen Arm befreien. Meine Finger schlossen sich wieder um den Pistolengriff.
Ich drängte mich an Perry vorbei und gab ihm einen Stoß mit der Schulter. Er tat nicht mal so, als könnte ich mich gegen ihn behaupten. Keinen Millimeter rückte er von der Stelle, doch ich prallte ab und geriet ins Straucheln. Noch während ich auf die Tür zustürzte, fing es in meinen Ohren an zu rauschen, und plötzlich stieg bittere Galle in mir hoch.
„Jillian“, hallte Perrys Stimme voll kaltblütiger Schadenfreude durch die muffige Luft. „Das weißt du doch, nicht wahr? Gott gibt es nicht. An alldem ist nichts Göttliches.“
Halt die Klappe, Terry.
Ich schaffte es gerade noch nach draußen, bevor ich mich übergeben musste. Die Luft war kalt und voller Nadeln, während ich über dem Treppengeländer hing und mir die Seele aus dem Leib kotzte.
Perry ignorierte die Silberamulette und hielt mir die Haare aus dem Gesicht. Beruhigend streichelte er mir über den Rücken, bis in der Ferne Sirenen ertönten und Saul zurückkam.
Möglicherweise hätte ich dafür dankbar sein sollen. Aber ich war’s nicht.
20
Die gesamte Praxis war vollgestopft. Leichen und Leichenteile in verschiedenen Stadien der Verwesung – kein
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