Schattenjagd
Zipfelchen des Teppichs war nicht blutdurchtränkt oder voller noch üblerer Dinge. Ganze Schwalle von Maden brachen aus dem fauligen Fleisch und schwammen in übel riechenden Flüssigkeiten. Die Spurensicherung transportierte die Überreste in Säcken ab, die für normale Tote viel zu klein gewesen wären. An Ort und Stelle konnten sie nur eine bestimmte Anzahl an Leichen wieder zusammensetzen, der Rest würde bis zum Labor warten müssen.
Schlimmer als der Pestgestank drinnen war nur der Geruch von Kotze vor der Tür. Selbst die hartgesottensten Gerichtsmediziner, die das Schlimmste gewohnt waren, stolperten aus der Klinik, um sich ihres Mageninhalts zu entledigen. Nur um gleich darauf mit entschlossener Miene wieder reinzugehen und ihren Job zu erledigen. Man sprach mit gedämpften Stimmen, selbst die größten Zyniker und Hanskasper des Morddezernats nahmen ihre Hüte ab und flüsterten wie in einer Kirche.
Der Tatort und das komplette Gebäude waren abgeriegelt, zum Glück mussten wir uns also keine Sorgen um Schaulustige machen. Wir befanden uns in einem ruhigen Stadtteil. Die Quincoa war eine Grauzone, wie sie nur in Großstädten zustande kommen – eine lange, heruntergekommene Straße mit Abschnitten für Wohnhäuser und solchen für Geschäfte. Allerdings stand der überwältigende Großteil aller Gebäude leer, nur hier und da hatte sich eins der Büros aus alten Zeiten gehalten, als dies noch eine geschäftige Hauptstraße gewesen war. Perrys blitzende schwarze Limousine stand auf einem Parkplatz auf der gegenüberliegenden Straßenseite, nicht länger im Leerlauf, sondern … na eben geparkt. Perry stand daneben und beobachtete das Tohuwabohu der Menschen, während langsam die Sonne unterging. Die meisten Sanitäter, Cops und Gerichtsmediziner mieden ihn rein instinktiv, wie eine fiese Erkältung oder üblen Mief. Sein Haar schimmerte und sein Anzug saß immer noch tadellos.
Den zweitschlimmsten Moment des Nachmittags hatten wir, als wir auf den OP stießen, der so sauber geschrubbt war, dass er glänzte. Dahinter lag ein enger und niedriger Flur, der zu einer Art Lieferrampe führte, vermutlich für den Van. In dem Verbindungsgang lagerten Kühlbehälter aus Styropor und ein Vorrat an Trockeneis, Skalpellen und Klammem, die allesamt blitzeblank und mit äußerster Sorgfalt bereitgelegt waren. Alles, was man brauchte, um eine reiche Organernte einzubringen.
Vor allem, wenn man nicht allzu besorgt war, ob die Besitzer besagter Organe diese Erfahrung auch überlebten.
Die Ärztekammer würde sich nicht besonders über diesen Fund freuen.
Noch schrecklicher als der Operationsraum jedoch waren die verblassenden Spuren von Gewalt: In den Sphären verankerte Saiten, die noch von den Schreien der Seelen nachhallten, die mit Sicherheit ebenso zerrissen und gequält worden waren wie die Körper. Mein blaues Auge konnte diese Spuren sehen, wo eine Hohepriesterin der Sorrow das abscheulichste und schwierigste aller Kunststückchen vollführt hatte: eine Seele zu fressen. Sich die psychische Energie des Todes einzuverleiben, um damit etwas Unaussprechliches anzuschüren.
Die Anrufung des Namenlosen, die solch einen Akt grauenhafter Todesqualen und Brutalität erfordert, reißt ein Loch in die Struktur der Realität, das so gewaltig und weit ist wie der Himmel selbst. Ich blickte auf eine psychische Wunde, von der die Menschen an diesem Ort sich mit hoher Wahrscheinlichkeit niemals mehr erholen würden – und Gott stehe uns allen bei, falls der Namenlose tatsächlich je losgelassen würde. Denn das würde drei und sieben Zehntel Jahre voll unbeschreiblicher Verderbtheit, Leiden und Entwürdigungen bedeuten – ein Krebs, der sich ins Herz der Welt frisst.
Aber nicht hier, verflucht! Nicht in meiner Stadt!
Ich saß auf dem Bordstein und hatte den Kopf auf die Knie gelegt. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne fielen auf meine Schultern und tauchten das Unkraut, das sich durch den bröckelnden Asphalt kämpfte, in flüssiges Gold. Entfernter Straßenlärm und die Geräusche von emsigen Arbeitern drangen an mein Ohr – Bleistifte, die über Papier huschten, und das leise Knipsen von Blitzlichtern. Schritte. Das trockene Schluchzen von jemandem, der all diesen Schrecken nicht länger ertragen konnte. Sanitäter, die sanft auf ihre Patienten einredeten.
Sie behandelten einige der Polizeibeamten gegen den Schock.
Ich zog mich noch weiter in mich selbst zurück, die Stirn fest auf die Kniescheiben
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