Schattenjahre (German Edition)
verlängern. Alle wussten von der tiefen Trauer um den tödlich verunglückten Sohn, von der widerspenstigen, schwierigen Tochter …
Nein, es gab keine Geheimnisse in Liz’ Vergangenheit, keinen Grund, warum Sage diese innere Anspannung fühlte, diese Furcht, die sie zögern ließ, nach unten zu gehen, in die Bibliothek.
Trotzdem musste es geschehen. Sie hatte es versprochen. Seufzend stieg sie die Treppe hinab, stand sekundenlang reglos vor der Bibliothekstür, öffnete sie schließlich und trat ein.
Ein helles Feuer knisterte im Kamin, und irgendjemand – zweifellos Jenny – hatte ein Kaffeetablett bereitgestellt.
Dies war die Zufluchtstätte des Vaters gewesen. Hier hatte er im Rollstuhl gesessen und in den Garten hinausgeblickt. Sage und ihre Mutter hatten in diesem Raum die Abende verbracht … Hör auf, ermahnte sie sich. Du bist nicht hergekommen, um an längst verflossene Zeiten zu denken, sondern um die Tagebücher zu lesen.
Sie staunte selbst über die plötzliche Hoffnung, es möge ihr misslingen, die Schubladen aufzusperren. Aber sie schaffte es natürlich. Sie waren alt und schwer, ließen sich jedoch überraschend mühelos aufziehen. Der schwache Geruch von Moschus und Kräutern – Liz’ Parfum – wehte Sage entgegen.
Nun sah sie die Tagebücher – viel mehr als erwartet, methodisch nummeriert und datiert, als hätte die Mutter stets gewusst, eines Tages würde jemand diese Aufzeichnungen lesen – als hätte sie es geplant …
Aber warum? Nervös nahm Sage das erste Buch aus dem Schubfach und schlug es mit zitternden Händen auf. Die Wörter verschwammen vor ihren Augen. Sie wollte nicht, konnte nicht … Doch beinahe glaubte sie, die Willenskraft der Mutter zu spüren, deren Flüstern zu hören. „Du hast es versprochen.“
Hastig blinzelte sie, um klarer zu sehen, und las den ersten Satz.
„Heute lernte ich Kit kennen.“
Kit? Sage runzelte die Stirn und überprüfte das Datum. Die Mutter hatte begonnen, ein Tagebuch zu führen, als sie siebzehn gewesen war. Kurz nach dem achtzehnten Geburtstag hatte sie geheiratet. Wer war dieser Kit?
Nebelhafte, unbehagliche Empfindungen erwachten in Sages Brust, widerstrebend betrachtete sie die regelmäßigen Schriftzüge. Es kam ihr so vor, als stünde sie vor einem dunklen Tunnel, den sie nicht zu betreten wagte, obwohl sie wusste, dass sie sich dazu durchringen musste. Wovor fürchtete sie sich?
Sei nicht albern, sagte sie sich und las den ersten Satz ein zweites Mal. „Heute lernte ich Kit kennen.“
1. KAPITEL
Frühling 1945
„Heute lernte ich Kit kennen.“
Allein der Anblick dieser Worte machte Lizzie schwindlig vor Glück, obwohl sie unmöglich ausdrücken konnten, welche neue Gefühlswelt sich ihr eröffnet hatte.
Gestern war ihr Leben noch von den anstrengenden Pflichten einer Aushilfskrankenschwester geprägt worden – lange Arbeitsstunden, niedriges Gehalt, all die grässlichen Aufgaben, mit denen die richtigen Krankenschwestern ihre kostbare Zeit nicht vergeudeten … Sie wäre lieber in der Schule geblieben. Aber nachdem ihre Eltern bei einem der vielen Bombenangriffe auf London gestorben waren, musste sie sich den Wünschen der Großtante fügen und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen.
Tante Vi wollte nicht unfreundlich sein, aber sie war nicht sentimental und nie verheiratet gewesen. Sie hatte keine Kinder und betonte ständig, sie habe ihre Großnichte nur aus Verantwortungsbewusstsein bei sich aufgenommen. Sie selbst hatte schon mit dreizehn arbeiten müssen, als Dienstmädchen im großen Herrschaftshaus. Dort war sie allmählich zu der geachteten Position von Lord und Lady Jevesons Haushälterin emporgestiegen.
Zunächst fand Lizzie es verwirrend, die unordentliche, aber gemütliche Atmosphäre in dem beengten Haus zu verlassen, wo sie mit ihren Eltern und Großeltern gelebt hatte, und aufs Land zu übersiedeln. Hier erschien ihr alles fremd, sie vermisste Ma und Pa ganz schrecklich. Jede Nacht weinte sie sich in den Schlaf und hatte Heimweh nach London.
Die Tante war das exakte Gegenteil von Ma und sprach auch ganz anders. Es hörte sich an, als steckte ihr Mund voller Nadeln und spitzer Steine. Sie zwang die Nichte, genauso zu reden, und korrigierte sie in einem fort, bis Lizzie sich kaum noch getraute, etwas zu sagen.
Das war vor vier Jahren gewesen. Nun wusste sie kaum noch, wie Ma und Pa ausgesehen hatten. Und die Erinnerung an das Elternhaus schien einem anderen Leben anzugehören. Inzwischen hatte sie
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