Schattenjahre (German Edition)
sich an Tante Vis pingelige Art und die scharfe Stimme gewöhnt.
Erst gestern hatte eine neue Aushilfsschwester, die aus einem anderen Dorf stammte, über Lizzies akzentfreie Sprechweise gespottet und ihr vor Augen geführt, welch große Veränderung mit ihr vorgegangen war. Die ungeschickte, rebellische Dreizehnjährige, die damals auf Tante Vis Schwelle gestanden hatte, existierte nur noch in verschwommenen Erinnerungen.
Tante Vi wusste genau, wie man sich benahm, und ihre Großnichte durfte nicht mit den Manieren und der Sprechweise eines Küchenmädchens aufwachsen. Das hatte sie so oft erklärt, dass Lizzie es niemals vergessen würde.
Anfangs hasste Lizzie den Job im Krankenhaus, aber die kalte Entschlossenheit in Tante Vis Augen verschloss ihr den Mund, als sie bitten wollte, wieder eine Schule besuchen zu dürfen.
Schroff verkündete die Tante, sie könne es sich nicht leisten, ein großes, faules Mädchen zu beherbergen, das ihr die Butter vom Brot esse und keinen Penny nach Hause bringe. Außerdem fügte sie bissig hinzu, falls Lizzie es noch nicht bemerkt habe – ein Krieg sei ausgebrochen und jeder habe die Pflicht, dem Vaterland zu dienen. Die Oberschwester im Krankenhaus war ihre Freundin. Und ehe Lizzie wusste, wie ihr geschah, wurde sie in einem Wohnheim nicht weit von der Klinik einquartiert, in einem Schlafsaal, zusammen mit einem Dutzend anderer Mädchen. Alle mussten die gleiche anstrengende Arbeit verrichten. Aber im Gegensatz zu Lizzie verbrachten sie die Freizeit nicht allein, sondern in kichernden, aufgeregten Gruppen. An den Samstagabenden wetteiferten sie miteinander, um möglichst hübsch auszusehen, wenn sie die Tanzveranstaltungen in der Kaserne besuchten.
Sie machten sich lustig über Lizzie, weil sie eine Einzelgängerin war, ganz anders als ihre Kolleginnen. Die strenge Erziehung der Tante trug Früchte, vor allem die ständig wiederholte Warnung vor den schlimmen Dingen, die einem dummen Mädchen zustoßen würden, wenn es auf die Schmeicheleien von Jungs hörte. Die wollten alle nur „das eine“ und würden ein Mädchen in Schwierigkeiten bringen, wenn sie es nur anschauten.
Vom männlichen Geschlecht hielt Tante Vi nicht viel, und jede vernünftige Frau sollte ihm besser aus dem Weg gehen.
Sie selbst war in einer rauen Welt aufgewachsen, wo eine alleinstehende Frau, die es zurHaushälterin in der gehobenen Gesellschaftsschicht gebracht hatte, ein viel angenehmeres Leben als ihre verheirateten Schwestern führte. Die mussten sich oft um ein halbes Dutzend Kinder und ihre Ehemänner kümmern, die vielleicht gar keine Lust hatten, zu arbeiten und die Familie zu ernähren.
Männern durfte man nicht trauen, und Lizzie, die ein angeborenes Feingefühl besaß, schreckte jedes Mal zurück, wenn ein Junge ungeschickte Annäherungsversuche unternahm.
Während des Krieges wollten die jungen Männer ihre womöglich knapp bemessene Zeit nicht verschwenden, ebenso wenig die Mühe, die sie aufwenden müssten, um ein Mädchen geduldig zu umwerben. Es gab genug andere, die keinen Wert auf so ein Getue legten.
Die wenigen anderen Männer, mit denen Lizzie zusammenkam, waren die Patienten in der Klinik, zum Teil Schwerverletzte. In stillschweigender Übereinkunft entschied das Personal, für diese Leute könne man nichts mehr tun. Und so lagen sie in dem großen, kalten, halb verfallenen Gebäude, von jungen Frauen betreut, die ihr Mitleid längst überwunden und schon zu viele verstümmelte Körper gesehen, zu viele gequälte Seelen beobachtet hatten, um Trauer zu empfinden.
Für Lizzie war es anders. Beim Antritt in der Klinik hatte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester erwogen. Aber ein Jahr später, angesichts der zahlreichen hoffnungslosen Fälle, der Bitterkeit in den Augen der Todgeweihten, des Zorns, den die zerstörte Zukunft in den Krüppeln weckte, wusste sie, dass ihr die innere Kraft für diesen Beruf fehlte.
Mit jedem vertrauten Patienten, den die hilflosen, der Belastung nicht gewachsenen Angehörigen nach Hause holten, und mit jedem Neuankömmling blutete Lizzies Herz noch schmerzhafter. Sie verstand, warum die anderen Mädchen Ablenkung von dem Trauma suchten, indem sie ihre freien Abende mit gesunden, fröhlichen Vertretern des männlichen Geschlechts verbrachten.
Die Amerikaner seien die besten, behaupteten sie einstimmig, großzügig und amüsant. Diese Soldaten waren am anderen Ende des Dorfs stationiert, und einige hatten ein paarmal versucht, sich mit Lizzie
Weitere Kostenlose Bücher