Schattenjahre (German Edition)
wenn er von diesem Haus erzählte. Wenn es ihm so viel bedeutete – warum wohnte er dann nicht dort? Aber sie war zu feinfühlig, um diese Frage zu stellen, spürte viel zu deutlich den Schmerz, den er vor den anderen verbarg.
Im Lauf der Monate erkannte sie, dass sie sich auf die Zusammenkünfte mit Edward zu freuen begann. Und sie war glücklich, wann immer sie ihm ein widerstrebendes Lächeln entlockte. So wie sie selbst las er gern. Als er erfuhr, inzwischen habe sie alle von der Vikarsgattin gespendeten Bücher mehrmals gelesen, erbot er sich, ihr welche zu leihen. Das lehnte sie ab, aus Angst, sie könnten im Schlafsaal beschädigt werden. Die anderen Mädchen würden die Bücher zwar nicht absichtlich ruinieren, gingen aber nicht allzu sorgfältig mit fremdem Eigentum um.
Mit der Zeit entwickelte sich eine zögerliche Freundschaft zwischen Lizzie und Edward. Oft besuchte sie ihn auch an ihren freien Tagen und brachte ihn in den Garten, wenn das Wetter es zuließ. Wenn nicht, las sie ihm etwas vor, denn sie wusste, wie sehr es ihn ermüdete, ein Buch in den Händen zu halten.
In ihren Briefen an die Tante erwähnte sie Edward nicht. Tante Vi würde diese Freundschaft missbilligen, da der Patient aus einer anderen Welt stammte, und sie fand es nicht richtig, wenn verschiedene Gesellschaftsschichten miteinander verkehrten. Daraus würden nur Probleme entstehen, hatte sie ihre Nichte gewarnt.
Nun schloss Lizzie sekundenlang die Augen, als ihr bewusst wurde, dass sie an jenem Donnerstag beinahe beschlossen hatte, ihre kostbare Freizeit nicht mit Edward zu verbringen. Sie war in einer seltsam rastlosen, unangenehmen Stimmung erwacht, erfüllt von einer vagen, fremdartigen Sehnsucht. Doch dann hatte sie gedacht, Edward würde sich auf den Garten freuen, wo der Rhododendron blühte. Hell schien die Sonne am klaren Himmel. Nein, es wäre unfair gewesen, den Freund im Stich zu lassen.
Und so verdrängte sie die rebellische Sehnsucht und duschte im kalten, schäbigen Badezimmer, das sie mit den anderen Mädchen teilte. Danach gönnte sie sich den Luxus, ihr Haar zu waschen. Sollte sie wagen, es schneiden zu lassen? Sie war die Einzige im Wohnheim, die eine altmodische Zopfkrone trug. Tante Vi bestand darauf. Wie würde sie mit der schulterlangen Pagenfrisur aussehen, die manche Kolleginnen trugen? Seufzend musterte sie im fleckigen Spiegel ihr ungeschminktes Gesicht.
Die anderen Mädchen benutzten Puder, Lippenstift und billiges Parfüm, das ihnen die amerikanischen Freunde schenkten. Sie drehten das Haar auf Lockenwickler, färbten die Wimpern mit Schuhwichse, und wenn sie so glücklich waren, ein Paar dieser begehrtenNylonstrümpfe zu besitzen, kürzten sie die Rocksäume und zeigten ihre Beine.
Lizzie zog die praktische Baumwollunterwäsche an, die blütenweiß leuchtete, weil sie – von Tante Vis strenger Erziehung getrieben – ihre kostbare Seifenration verwendete, um die Hemdchen und Höschen zu schrubben. Dabei gestand sie sich wehmütig ein, dass Lippenstift und modische Pagenfrisuren nicht für sie bestimmt waren. Hinter ihrem Rücken lachten die anderen Mädchen über sie, das wusste sie, ahmten ihre Sprechweise nach und machten sich über ihre Kleider lustig.
Die Garderobe, mit der sie aus London aufs Land gekommen war, passte ihr längst nicht mehr. Die sparsame Tante hatte Kleider aus einer Truhe, ein Geschenk ihrer ehemaligen Arbeitgeber, für die Nichte geändert und ihr gleichzeitig Nähunterricht erteilt. Dass der Rock, den Lizzie jetzt trug, früher Lady Jeveson gehört hatte, beeindruckte sie ebenso wenig, wie es den anderen Mädchen imponiert hätte – allerdings aus anderen Gründen. Die Kolleginnen hätten vor Lachen geschrien, wären sie informiert worden, dass die erste Besitzerin dieses Rocks, damals ein junges Mädchen, inzwischen Großmutter war.
Wie Tante Vi energisch erklärte, nutze sich ein qualitativ wertvoller Stoff niemals ab. Und die Nichte gab ihr seufzend recht, während sie über die schweren Tweedfalten strich. Schade, dass Lady Jeveson nicht die sanften Pastellfarben bevorzugt hatte, die viel besser zu mir passen würden, sondern dunkle Brauntöne, dachte Lizzie. Die Bluse war zwar aus Seide, aber das dumpfe Beige hob ihren zarten Teint genauso wenig hervor wie die braune Kaschmirstrickjacke.
Die anderen Mädchen gingen in bunten Sommerkleidern mit weit schwingenden Röcken aus, mit Dekolletés, die Tante Vi schockiert hätten. So etwas Gewagtes hätte Lizzie niemals
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