Schattenjahre (German Edition)
zu unterhalten, wenn sie dorthin ging, um ihren wöchentlichen Pflichtbrief an Tante Vi abzuschicken. Sie ignorierte solche Avancen, die lächelnden Gesichter, die dreisten Einladungen. Aber sie fragte sich wehmütig, wie es wohl wäre, jene große, überwältigende Liebe zu erleben, von der sie so oft in Romanen las.
Sie war eine Leseratte und Tagträumerin. Bevor sie in Tante Vis Obhut gekommen war, hatte sie kaum ein Buch angerührt. Aber um die Ausdrucksweise der Nichte zu verbessern, hatte die Tante ihr „lehrreiche“ Bücher gegeben.
Ein wunderbares Geschenk – eine Truhe voller Bücher, die den jetzt erwachsenen Kindern einer Vikarsgattin gehört hatten – ermöglichte es Lizzie zeitweise, der strengen Herrschaft ihrer Tante zu entfliehen, in eine bisher unbekannte Welt.
Bei dieser Lektüre erfuhr sie von Tristans und Isoldes Liebestragödie und träumte von Gefühlen, die nichts zu tun hatten mit den plumpen Zudringlichkeiten der jungen Männer in ihrem Bekanntenkreis. Solche Unverschämtheiten, ebenso die unwillkommenen Gespräche und Enthüllungen der anderen Mädchen im Schlafsaal, machten es Lizzie leicht, die Ermahnungen ihrer Tante zu beherzigen. Und so lief sie nicht Gefahr, in „Schwierigkeiten“ zu geraten.
Mit „Schwierigkeiten“ meinte Tante Vi schlicht und einfach Sex, ein Thema, das in ihrem Haus nur andeutungsweise erörtert wurde. Sex musste man ignorieren, als würde er gar nicht existieren. In ihrer Naivität glaubte Lizzie, alle Frauen würden die Ansichten ihrer Tante teilen, bis sie im Krankenhaus von ihren Kolleginnen eines Besseren belehrt wurde.
Bis jetzt hatte sie selbst nichts anderes empfunden als eine vage, sehnsüchtige Vermutung, ihr Leben wäre irgendwie unvollkommen, etwas Wichtiges würde darin fehlen. Niemals hatte sie die Möglichkeit in Betracht gezogen, mit einem Mann jene Intimitäten zu teilen, von denen die anderen Mädchen so freimütig und schockierend sprachen. Bis jetzt …
Träumerisch starrte sie in ihr Tagebuch. Nur auf Tante Vis Anordnung hin hatte sie begonnen, eins zu führen, und keineswegs, um ihm ihre geheimsten Gedanken anzuvertrauen. Anfangs schilderte sie nur die banalen Ereignisse jedes einzelnen Tages. Doch seit sie in der Klinik arbeitete, notierte sie auch Gedanken und Gefühle, zunächst allerdings nur in nebulöser Form.
Kit … Das Wunder dieser Begegnung verwirrte sie immer noch. Nervöse Freude jagte einen Schauer durch ihren Körper, wann immer sie diesen Namen wisperte.
Kit … Er war so anders, etwas ganz Besonderes, einfach atemberaubend.
Bei seinem Anblick hatte sie es sofort gewusst. Er wandte den Kopf zu ihr, lächelte sie an, und plötzlich war die Welt erfüllt von Wärme und Zauber. Hätte sie beschlossen, den armen Edward nicht zu besuchen, wäre Kit ihr vielleicht nie über den Weg gelaufen. Sie zitterte, als ihr bewusst wurde, wie knapp sie dieser Katastrophe entronnen war.
Seit vielen Monaten lag Edward Danvers in der Klinik, ein in der Normandie schwer verwundeter Major. Beide Beine zertrümmert und später amputiert, das Rückgrat verletzt … In der Klinik sollte er sich von seiner zweiten Operation erholen. Aber Lizzie wusste ebenso wie alle anderen, dass es sonst keinen Ort gab, wo er sich hätte aufhalten können. Seine Eltern waren tot, eine Ehefrau hatte er nicht.
Er schien keinen Lebenswillen mehr zu besitzen, und er unterschied sich von den anderen Patienten, haderte nicht mit seinem Schicksal und akzeptierte es still und ruhig – zumindest nach außen hin. Lizzie beobachtete, wie er sich allmählich von der Außenwelt zurückzog, so als wollte er sich zwingen, endlich zu sterben.
Über seine Gebrechen sprach er nicht. Nie klagte er wie die meisten anderen Krüppel über immer noch vorhandene fiktive Gliedmaßen. Offenbar hatte er sich an die Konsequenzen der Amputationen gewöhnt. Willig erlaubte er den Schwestern, ihn in den Rollstuhl zu setzen, damit Lizzie oder eine ihrer Kolleginnen ihn in den Garten schieben konnte. Sie mochte ihn, obwohl seine Gesellschaft die anderen Mädchen langweilte, weil er niemals lachte und scherzte.
Sein Schweigen störte Lizzie nicht. Sie wusste, wie gern er sich im Garten herumfahren ließ. Einmal erwähnte er, hier fühle er sich an den Garten erinnert, der zum Haus seiner Großeltern gehörte. Es hieß Haus Cottingdean, und er schien es zu lieben. Der Gedanke daran weckte offensichtlich Freude und Kummer gleichermaßen. Manchmal sah sie Tränen in seinen Augen,
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