Schattenkampf
die Halbinsel hinunterzufahren und wegen der Scholler-Berufung Mary Patricia Whelan-Miille aufzulauern, aber wenn Bracco noch in der Nähe der Kanzlei war, nähme das Treffen
bestimmt nicht viel Zeit in Anspruch. »Klar«, sagte er, »rufen Sie ihn an, ob es ihm in den Kram passt.«
Phyllis begann zu wählen. Hardy hatte noch kaum die Tür seines Büros erreicht, als sein Handy zu läuten begann. Er blieb abrupt stehen, nahm es von seinem Gürtel und schaute auf das Display. Der Anruf kam vom Empfang der Kanzlei. Seine Schultern sackten nach unten, und er drehte sich um.
Den Mund missbilligend verzogen, schüttelte Phyllis den Kopf. »Vielleicht haben Sie es zum Aufladen im Auto gelassen. Vielleicht aber auch nicht.«
Erwischt.
»Ich werde jetzt Inspector Bracco zu erreichen versuchen«, sagte sie dann.
Bracco hätte als Inbegriff des braven Mordermittlers herhalten können. Etwa einsfünfundsiebzig groß und fünfundsiebzig Kilo reine Muskeln, trug er Kamelhaarsakko und braune Hose, dazu ein hellbraunes Hemd mit brauner Krawatte. Unter dem kurzgeschnittenen strohblonden Haar belebten graue Augen ein kantig kerniges, glatt rasiertes Gesicht.
Im Moment hatte es sich Bracco mit einer Tasse frischem Kaffee in einem Ledersessel an einem der Fenster bequem gemacht, die sich auf die Sutter Street öffneten. Dort war die zwanglosere der zwei Sitzgruppen, durch die sich Hardys Büro hervortat - die andere, förmliche und einschüchternde, mit dem Perserteppich, den Queen Anne-Sesseln und dem Couchtisch mit Löwenklauenfüßen, inklusive Zierdeckchen, befand sich mehr oder weniger direkt vor seinem großen Kirschholzschreibtisch.
Hardy ging zum Zwilling von Braccos Sessel und setzte sich. Er begann in besänftigendem Ton. »Entschuldigen Sie
bitte, dass Sie warten mussten, als Sie das letzte Mal hier waren. Es gab da ein Missverständnis bezüglich meines Terminkalenders.«
Bracco drehte eine Handfläche nach oben und erklärte den Fall damit für erledigt. »Sie tun mir einen Gefallen, dass Sie sich überhaupt Zeit für mich nehmen. Da brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen.«
»Trotzdem. Ich habe Abe allerdings bereits gesagt, dass ich wahrscheinlich wenig Brauchbares beisteuern kann.«
»Das hat er mir gesagt. Er hat auch gesagt, Sie hätten angeboten, einen Ihrer Leute Bowens Akten durchsehen zu lassen, dass Sie aber nicht damit rechnen, Misses Bowens Tagebuch in ihnen zu finden.«
»Nur, weil Sie ja noch etwas hätte hineinschreiben müssen, nachdem die Akten bereits zur Lagerung hierhergeschafft worden waren. Glitsky sagte, Sie wären nicht mal sicher, ob so ein Tagebuch überhaupt existiert.«
»Das ist richtig. Allerdings ist Jenna - Bowens Tochter - ziemlich sicher, dass ihre Mutter Tagebuch geführt hat. Als ich jedoch heute Morgen das Haus durchsucht habe - und zwar ziemlich gründlich -, habe ich nichts gefunden.«
»Tja.« Hardy verstand nicht recht, warum dieses angebliche Tagebuch ausgerechnet unter den bei ihm eingelagerten Akten sein sollte, aber nachdem er Bracco schon hatte warten lassen, wollte er ihn jetzt nicht einfach abwimmeln. Sollte er wenigstens seinen Kaffee austrinken. »Was die Akten angeht, die wir bereits weggegeben haben, kann ich natürlich nichts mehr für Sie tun, aber wenn Sie möchten, können wir die verbleibenden Unterlagen, die wir noch nicht durchgesehen haben, in den nächsten paar Tagen nach einem Tagebuch durchsuchen. Ich bin gerade erst zurückgekommen, sonst
hätte ich bereits jemanden damit beauftragt. Gibt es einen Grund zur Eile, von dem ich nichts weiß?«
Bracco schüttelte den Kopf. »Nur Jenna, um ehrlich zu sein. In den ersten Wochen nach dem Tod ihrer Mutter hat ihr die Sache gewaltig zugesetzt. Inzwischen versucht sie, das Ganze zu verarbeiten, einen Schlussstrich unter die Sache zu ziehen. Wenn es ein Tagebuch gibt und wenn es irgendeinen Hinweis enthält …« Er zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls, Grund zur Eile besteht an sich nicht. Ich habe nur das Gefühl, es ihr schuldig zu sein, der Sache nochmal nachzugehen, wenn ihr das Ganze so wichtig ist. Und das ist es.«
Hardy setzte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Daraus schließe ich, dass die Mutter Ihr Fall war.«
»Richtig.«
»Konnten Sie denn mit dem Befund der Rechtsmedizin leben?«
»Auf jeden Fall.«
»Ist Ihnen etwas aufgefallen, was Sie in dem Verdacht bestärkt hat, es könnte kein Selbstmord gewesen sein?«
»Im Großen und Ganzen, nein. Da war natürlich die
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