Schattenkampf
jetzt leitender Rekruteur für ehemalige Army-Angehörige in der Bay Area. Er wusste, welche Sorte Leute Jack Allstrong im Irak brauchte, und er wusste auch, wo sie zu finden waren.
Tara Wheatley war überrascht über Nolans rasche Rückkehr. Sie hatte in den Wochen seit seiner Abreise schwer mit ihren Schuldgefühlen zu kämpfen gehabt. Was, versuchte sie sich einzureden, vollkommen lächerlich war. Sie war ein erwachsener Mensch, der seine eigenen Entscheidungen fällen konnte, und sie und Evan waren schon mehrere Monate getrennt.
Sie hatte niemanden betrogen. Ihr Leben ging weiter. Sie hatte sich endlich dazu durchgerungen, die letzten vier von Evans Briefen zu lesen, aber nach der Nacht, in der sie Nolan in ihre Wohnung mitgenommen hatte, hatte sie es nicht mehr über sich gebracht, ihm zu schreiben.
Was hätte sie auch sagen sollen?
Ach, und ich habe mit deinem Freund Ron geschlafen, der mich besucht hat, um mir deinen Brief zu bringen. Eigentlich wollte ich es gar nicht, aber ich war ziemlich durcheinander und einsam, wirklich einsam, und ich wollte nicht allein sein; er hatte mir nämlich an besagtem Abend gerade mehr oder weniger das Leben gerettet, und ich konnte mir einfach nicht mehr vorstellen, dass du und ich, dass wir unsere Differenzen nochmal ausräumen könnten. Es war ganz einfach der Zeitpunkt gekommen, die Tatsache unserer Trennung auch in die Praxis umzusetzen, ja? Wir waren nicht mehr zusammen und wären auch nicht mehr zusammengekommen, und deshalb konnte ich mit einem anderen Mann schlafen, wenn ich das wollte, ohne dass dich das etwas anging. Okay, gut, dabei könnte vielleicht auch mitgespielt haben, dass ich es dir heimzahlen wollte, weil du einfach so in den Irak gegangen bist - wenn du mich also allein zu Hause lassen kannst, dann ist es genau das, was du damit riskierst. Und jetzt - siehst du, du Dummkopf? - ist es passiert.
Nein. Diesen Brief würde sie nicht schreiben. Nicht jetzt und auch nicht später.
Und Evan schrieb ihr natürlich auch nicht mehr.
Ron Nolan war ein dynamischer und attraktiver älterer Typ, und wenn aus ihrer Zukunft mit Evan nichts wurde, was inzwischen völlig außer Zweifel stand, dann wäre Nolan mit seinem Charme, seiner Erfahrung, seinem Selbstbewusstsein
und - gib es ruhig zu - seinem Geld zumindest in der Lage, ihr dabei zu helfen, über ihre erste große Liebe hinwegzukommen. Sie konnte im Moment eine unproblematische und unkomplizierte Beziehung brauchen, bis ihr der nächste Mann fürs Leben über den Weg lief.
Als ob es je einen anderen Mann fürs Leben geben würde als Evan.
Nolan sah keine Notwendigkeit, ihr von dem Zwischenfall in Masbah zu erzählen oder was aus Evan geworden war oder welche Rolle er selbst, Nolan, dabei gespielt hatte. Für Tara stellte es sich so dar, dass Nolan aus freien Stücken nach Hause gekommen war, möglicherweise sogar infolge einiger ihrer Diskussionen über die moralische Vertretbarkeit des Krieges. Als er ihr alles erklärte, tat er es, wie seine alte Englischlehrerin immer gesagt hatte, so vage, dass es hätte wahr sein können.
Und Nolan wusste tatsächlich nicht mehr über Evan Scholler, als dass er von der letzten Panzerfaust eine schwere Kopfverletzung davongetragen hatte und bei seiner Abreise aus Bagdad immer noch in Lebensgefahr geschwebt hatte. Er hätte inzwischen sogar schon tot sein können, obwohl Nolan annahm, dass Tara dann benachrichtigt worden wäre.
Doch egal, was aus Evan geworden war, inzwischen waren fast drei Monate vergangen. Taras Leben war weitergegangen. Für Nolan gab es also keinen vernünftigen Grund, weiter darüber zu reden.
Sie stand in der Gemüseabteilung des Supermarkts vor den Artischocken. Es war zwei Tage vor Beginn der Weihnachtsferien. Die Hintergrundmusik, die alle glücklich und zufrieden
stimmen sollte, hatte gerade einen abrupten Sprung vom Lächerlichen ins Ergreifende gemacht - die Chipmunks-Version von »Rockin’ Around the Christmas Tree« ging ziemlich unharmonisch in Aaron Nevilles »Oh Holy Night« über. Dieser Song war ihr und Evans liebstes Weihnachtslied gewesen, und als sie jetzt unvermittelt seine ersten Takte hörte, stellte sich in Taras Kopf plötzlich vollkommene Leere ein. Sie schaute auf die vor ihr aufgereihten Konservendosen und hatte mit einem Mal keine Ahnung mehr, warum sie hier war oder was sie kaufen wollte.
Unbewusst kam ihre Hand an ihren Mund hoch, ihr stiegen Tränen in die Augen, und sie stieß zwischen den Fingern hindurch einen
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