Schattenkampf
tiefen Seufzer aus. »Mein Gott«, hauchte sie bestürzt.
»Tara? Bist du das?«
Mit einem weiteren unterdrückten Seufzer kam sie aus ihrem Tagtraum. »Eileen?«
Evans Mutter war immer noch eine attraktive Frau, und Tara war immer schon der Meinung gewesen, dass dies weniger an ihrer schlanken Figur oder ihren ebenmäßigen, leicht nordischen Gesichtszügen lag als an ihrer sympathischen Ausstrahlung. In Eileen Schollers Welt waren alle gleich und alle gut, auch wenn der Rest der Menschheit in diesem Punkt anderer Meinung war, und man konnte davon ausgehen, dass man vor ihr, komme, was wolle, gemocht und korrekt und freundlich behandelt würde. Jetzt legte sie wie ein Vogel den Kopf auf die Seite und runzelte die Stirn. »Was hast du denn? Du siehst aus, als würdest du jeden Moment ohnmächtig werden.«
»Genauso fühle ich mich auch.« Tara versuchte, ein Lächeln aufzusetzen, aber sie wusste, es würde gezwungen wirken.
»Komisch. Keine Ahnung, was gerade mit mir war.« Sich auf ihren Einkaufswagen stützend, rang sie sich eine Heiterkeit ab, die sie nicht empfand. »Sicher der Stress. Wie immer vor Weihnachten. Aber wie geht es dir? Du kaufst doch sonst nicht hier ein, oder? Aber schön, dich mal wieder zu sehen.«
»Ich war gerade auf dem Heimweg von der Arbeit, und da fiel mir ein, dass ich noch etwas Gemüse brauche. Aber jetzt bin ich froh, dass ich hergekommen bin. Es ist wirklich schön, dich mal wieder zu sehen.« Ihre Miene wurde wehmütig. »Du hast uns gefehlt, weißt du.«
Tara nickte nüchtern. »Ihr habt mir auch gefehlt, wirklich.«
»Tja, euch Kindern ist, glaube ich, nicht bewusst, was wir armen Eltern durchmachen, wenn ihr euch trennt. Da haben wir dich als die Tochter angesehen, die wir nie hatten, und plötzlich, von einem Tag auf den anderen, bist du völlig aus unserem Leben verschwunden. So etwas ist schon sehr traurig.«
»Ich weiß«, sagte Tara. »Es tut mir wirklich leid. So hatte ich mir das auch nicht gedacht.«
»Ich weiß, meine Liebe, es kann ja auch niemand etwas dafür. Das ist eben eins dieser Dinge im Leben, die einem sehr nahegehen. Oder wie es Jim ausdrücken würde, eine SGW.« Sie kam näher und senkte ihre Stimme. »Eine Scheißgelegenheit, sich weiterzuentwickeln. Entschuldige meine Ausdrucksweise.«
»Schon vergeben. Wie geht es übrigens Evan?«
»Na ja, wir machen uns natürlich immer noch Sorgen, aber er scheint wieder auf die Beine zu kommen. Es gibt immer noch einige Probleme, aber wir werden ihn über Weihnachten besuchen. Danach werden wir bestimmt klarer sehen, wie es mit ihm weitergeht.«
»Ihr besucht ihn über Weihnachten?«
»Ja. Wir fliegen nächste Woche hin.«
»In den Irak?«
Einen Augenblick lang wurde Eileen Scholler völlig still. »Nein, meine Liebe.« Sie kniff die Augen zusammen - nahm Tara sie auf den Arm? -, aber die Freundlichkeit blieb in ihnen. »Nach Washington, ins Walter Reed.«
»Walter …«
»Hast du denn gar nichts davon mitbekommen? Ich war sicher, du wüsstest Bescheid. Ehrlich gestanden, hat es mich sogar ein wenig geärgert, dass du nie angerufen hast. Hätte ich geahnt, dass du es nicht weißt, hätte ich …«
Tara winkte ihre Entschuldigung beiseite. »Das spielt doch jetzt keine Rolle, Eileen. Was habe ich nicht mitbekommen? Ist Evan im Irak was zugestoßen?«
»Er wurde schwer verwundet, letzten Sommer. Am Kopf. Er ist nur mit knapper Not mit dem Leben davongekommen.«
»O mein Gott.« Plötzlich fühlten sich Taras Beine an, als würden sie ihr den Dienst versagen. Ihre Hände schlossen sich fester um den Griff des Einkaufswagens, und sie sah Eileen flehentlich an. »Was ist passiert?«
»Sie wurden irgendwo in Bagdad angegriffen. Fast sein ganzer Trupp kam ums Leben. Lauter junge Kerle wie er. Sie kamen alle von der Halbinsel. Es stand in allen Zeitungen und kam auch in den Nachrichten. Hast du denn gar nichts davon mitbekommen?«
»Ich habe aufgehört, diese ganzen Meldungen zu lesen, Eileen, oder Nachrichten zu sehen. Sobald das Wort Irak fällt, schalte ich ab. Dann kriege ich einfach zu viel. Ich dachte, wenn Evan etwas zustößt, würde ich es schon erfahren. Es hat
mich einfach zu sehr belastet, jeden Tag Nachrichten zu schauen.«
»Wie gesagt, zum Glück ist er nicht gefallen, und das ist das Einzige, was sie melden. Es ist, als würden die Verwundeten gar nicht zählen. Deshalb kann es durchaus sein, dass sein Name nie gefallen ist. Aber sein Zug … diese armen Jungen.«
»Sind sie alle
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