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Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)

Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)

Titel: Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Regenjacke.
    »Was die wohl gefunden haben?«
    Inger Johanne gab keine Antwort. Henrik hatte so lange Beine, dass sie große Schritte machen musste, um nicht zurückzubleiben. Unter Rucksack und Regenjacke klebte ihr Rücken von Schweiß und Kondenswasser, und sie war schon außer Atem.
    »Können wir ein wenig langsamer gehen?«, fragte sie, als ein steiler Hang abflachte und der Waldweg nach Osten abbog.
    Verwirrt schaute er sich um, dann ging er mit so kleinen Schritten weiter, dass Inger Johanne laut lachte. Als sie den Damm erreichten, wo der Øyungen in den Skarselv abfließt, zeigte sie auf eine grob gezimmerte Bank am Ufer.
    »Ich lad dich zum Kaffee ein«, sagte sie. »Auch wenn das Wetter besser sein könnte.«
    »Ich habe vergessen, etwas mitzunehmen«, sagte er verlegen. »Ich gehe nicht so oft wandern, weißt du.«
    »Genug für zwei«, sagte sie und holte Kaffee und Kekse hervor.
    Auf dem Herweg waren ihnen zwei Mountainbiker begegnet, der eine hätte Jack fast überfahren und verschwand dann mit einer Schimpftirade bergab. Ansonsten war kein Mensch zu sehen. Jack lief am Wasser hin und her und trieb die schnatternden Enten in die Flucht. Die niedrige Wolkendecke wanderte jetzt nach Süden und zog einen weißen Schweif aus nicht mehr ganz so dichtem Nebel hinter sich her.
    »Oslo ist eigentlich da am schönsten, wo es keine Stadt ist«, sagte Inger Johanne leise. »Wir haben den schönsten Stadtpark der Welt.«
    Sie schwiegen eine Weile. Henrik Holme war es am liebsten so, das merkte sie. Seine Züge entspannten sich, und die Finger hörten auf mit diesem ewigen Tanz zwischen Kaffeebecher und Nasenflügel.
    »Du erinnerst mich ein bisschen an meine Tochter.«
    »Wirklich?«
    »Ja. Und du hast auch nicht mehr solche Angst vor Jack.«
    »Nein. Ich weiß ja, dass er lieb ist. Aber ich würde mich niemals trauen, ihn zu streicheln.«
    »Hast du eine Diagnose?«
    Er wunderte sich nicht einmal über diese Frage. Er war auch nicht beleidigt. Er grinste nur, dann sah er einem Vogel zu, der zwanzig Meter weiter in der Luft schwebte, unangefochten von Jacks Bellen und Fiepen angesichts der unerreichbaren Enten.
    »Nein. Als ich klein war, haben sie mich auf alles Mögliche untersucht. Tourette und Asperger und was weiß ich nicht alles. Nichts traf richtig zu. Ich funktionierte eben doch zu gut, meinten sie. Die Ärzte. Sie hatten Formulare und so, aber ich habe in keins hineingepasst. Meine Mutter hat sich schreckliche Sorgen gemacht.«
    Inger Johanne versteckte ihr Lächeln hinter ihrem Kaffeebecher.
    »Mein Vater dagegen meinte, ich sollte so bleiben, wie ich war. So lange ich mich anständig benahm. Ihm ging es immer nur um das eine: Ich sollte ein braver Junge sein. Er hat sich so über etwas gefreut, das ein Arzt in seinem Bericht geschrieben hatte.«
    Jetzt wirkte das Lächeln fast verlegen, aber er wurde nicht rot.
    »›Der Patient verfügt über eine hoch entwickelte Fähigkeit zur Empathie‹«, zitierte er feierlich, dann tat er es mit einem Lachen ab. »Ich habe diesen ... Tic, das ist dir sicher aufgefallen. Und dann eine verdammt lange Liste von Phobien. Hab Schiss vor allem und jedem. Aber ich komme zurecht.«
    »Das stimmt.«
    »Eine Frau werde ich wohl nie abkriegen, aber ich komme zurecht.«
    »Klar kriegst du eine Frau.«
    »Nein, bestimmt nicht. Ich hab furchtbare Angst vor Mädchen.«
    »Wir sitzen doch hier, Henrik.«
    Er lächelte noch breiter, ohne sie anzusehen. Sie tranken den restlichen Kaffee und verstauten Thermoskanne und Kekse wieder im Rucksack, den er verlegen zu tragen anbot. Er durfte es.
    Sie folgten dem östlichen, dunkleren Waldweg nach unten. Dabei schwiegen sie fast die ganze Zeit. Manchmal lachten sie über Jack, der offenbar unbedingt eine Maus fangen wollte, er hüpfte wie ein Welpe hin und her und drückte die ganze Zeit die Nase auf den Boden. Ab und zu stellte Henrik eine Frage nach Kristiane. Inger Johanne merkte, dass sie gern mit ihm über ihre Tochter sprach. Durch seine eigenen Bemühungen um ein möglichst normales Leben hatte er enorm viel gelernt.
    »Und bei uns war es genau wie bei deinen Eltern«, sagte sie, als sie sich dem Golf näherten. »Ich habe viele Jahre mit der Suche nach einer Diagnose vergeudet, während Isak nur mit den Schultern zuckte und meinte, ich sollte das nicht so eng sehen. Aber sie hat ein ganz anderes Funktionsniveau als du, das muss ich auch sagen. Kristiane wird zum Beispiel nie allein leben können. Aber sie ist ... ein liebes

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