Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
auf und blickte fest in die dunkelbraunen, skeptischen Augen unter dem Pony, aus dem einzelne graue Haare starr und widerspenstig hervorstanden.
»Nicht einmal das konnten Sie richtig machen«, sagte sie endlich verärgert, machte auf dem Absatz kehrt und war verschwunden.
Henrik öffnete die zweite Schreibtischschublade, zog die Kopien heraus und verstaute sie in seinem Rucksack.
»Der Teufel soll dich holen«, murmelte er und beschloss, nach Hause zu gehen.
5
Im Kalender stand zum ersten Mal August, und es war Montag.
Inger Johanne hatte das Wochenende mit Gartenarbeit verbracht, etwas, das sie abermals daran erinnerte, dass sie in eine Wohnung ziehen müssten. Der Rasen war eine ziemlich flache Ansammlung von Moos und Löwenzahn. Das Tulpenbeet zur Straße hin sah im Frühling für ein oder zwei Wochen schön aus. Jetzt quoll es über von Pflanzen und Blumen, die sie nicht kannte, aber schön waren sie jedenfalls nicht. Der Kiesweg zur Haustür war dermaßen von Unkraut überwuchert, dass sie ernsthaft erwog, ihn auf eigene Faust asphaltieren zu lassen.
Es hatte trotzdem gutgetan, draußen zu sein. Körperliche Arbeit zu leisten. Daran erinnert zu werden, dass die Welt sich nicht anhalten ließ, so wie die Lupinen, die sich vor einigen Jahren auf der anderen Seite des Zauns angesiedelt hatten, jetzt auf dem Vormarsch durch den Garten waren.
Inger Johanne konnte sich nicht erinnern, jemals auf diese Weise freigehabt zu haben. Keine Kinder, keine Arbeit, und Yngvar von morgens um acht bis spätabends aus dem Haus. Kein richtiger Urlaub, nur tote Zeit. Es lag eine unangenehme Unsicherheit darin, die ganze Zeit tun zu können, was sie wollte. Inger Johanne war es nicht gewohnt, Entscheidungen zu treffen. Immer wieder ertappte sie sich dabei, dass sie auf dem Sofa saß und in die Luft starrte, ohne so richtig zu wissen, was sie jetzt machen sollte.
Es war zehn vor zwölf, und sie starrte auf die noch immer warmen Weizenbrötchen. Dass sie noch warm waren, war das einzig Verlockende daran. Mit der Hefe hatte offenbar etwas nicht gestimmt. Vielleicht war sie zu alt gewesen, sie hatte das Verfallsdatum nicht überprüft. Auf jeden Fall waren die Brötchen winzig klein und hart, und sie hatten einige Minuten zu lang im Backofen gestanden. Einige waren fast schwarz. Wenn der Golf guter Laune war, könnte sie schnell zur Tankstelle im Maridalsvei fahren und neue kaufen. Sie griff zu einem Brötchen und schnitt es in zwei Teile. Innen war es immerhin recht hell. Fast roh in der Mitte, wie sie jetzt sah.
Sie hörte die Türklingel.
»Shit«, flüsterte Inger Johanne und warf die Brötchen in den Mülleimer, ehe sie einen Schrank aufriss, eine Packung Kekse herausnahm und auf einen Teller kippte.
»Schon unterwegs«, rief sie.
Agnes Krogh kam einige Minuten zu früh. Mit ernster Miene streckte sie die Hand aus, als die Tür geöffnet wurde. Inger Johanne ignorierte die Hand, beugte sich vor und umarmte die ältere Frau. Sie blieben ein wenig zu lange so stehen, und als Inger Johanne sich losriss, konnte sie sehen, dass Agnes Krogh mit den Tränen rang.
»Ich weiß«, sagte Inger Johanne und nahm ihre Hand. »Kommen Sie rein.«
Agnes Krogh war die Frau, die Ellen hätte werden können. Die blonden Haare waren im Alter aschblond geworden, waren aber noch immer üppig und schulterlang. Sie wog einige Kilo mehr als früher. Das stand ihr und machte ihr Gesicht weicher. Ihre Zähne waren sicher gebleicht worden, sah Inger Johanne, als sie sich an den Küchentisch setzten und Agnes Krogh rasch und verlegen lächelte. Sie war sonnenbraun und hatte rote Wangen. Agnes Krogh war eine Frau, die sich gut hielt, die aber nicht um ihr Leben rannte.
»Es tut mir wirklich leid, Sie zu stören«, sagte sie. »Mitten in den Ferien und überhaupt.«
»Sie stören nicht. Im Gegenteil. Es ist schön, Sie wiederzusehen.«
Das stimmte. Inger Johanne merkte, dass sie sich über diesen Besuch freute und dass sie sich nicht einmal über ihren missratenen Backversuch ärgerte.
»Und die Kinder?«, fragte Agnes Krogh. »Geht es gut mit den Kindern?«
»Ja. Sie wachsen. Im Moment sind sie in Frankreich. Mit Isak.«
»Alle beide?«
»Ja. Kristiane ist unglücklich ohne ihre Schwester. Und Isak ist da ganz locker.«
»Ihr habt es also geschafft.«
»Was denn?«
Inger Johanne goss ihnen beiden Kaffee ein, setzte sich und schob dem Gast den Teller mit den Keksen zu.
»Ihr habt es mit der Familie geschafft. Dieses ganze moderne
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