Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Schlafzimmer!«
Das war der einzige Befehl, dem er gewöhnlich gehorchte. Es bedeutete freien Zutritt zu dem normalerweise verbotenen Bett, und er erhob sich und trottete mit über den Boden fegendem Schwanz durch den Raum.
»Haben Sie mit Ellen darüber gesprochen?«, fragte Inger Johanne und setzte sich wieder.
»Nein. Jedenfalls nicht sofort. Wir sind einfach nicht auf die Idee gekommen, dass da etwas nicht stimmen könnte. Dass Sander, unser eigener Enkel, möglicherweise ... Wer kommt denn auf eine solche Idee?«
Sie machte eine hilflose Handbewegung und starrte Inger Johanne an.
Die Frage blieb unbeantwortet. Agnes seufzte und erzählte dann weiter.
»Aber irgendwann wollte er dann nicht mehr nach Hause. Wenn er bei uns gewesen war, meine ich. Ab und zu kam er auch unter der Woche, und in den Kindergarten ging er gern. Aber sonntagabends, wenn er das ganze Wochenende bei uns verbracht hatte, wollte er eindeutig nicht wieder weg.«
»Kinder sind doch oft so gern bei ihren Großeltern«, sagte Inger Johanne und lächelte ein wenig. »Ragnhild kann ein Mordsspektakel veranstalten, wenn es bei meiner Mutter richtig schön war. Neulich hat sie auf dem ganzen Heimweg geheult, weil ich sie holen musste, ehe sie mit ihrer Oma ein riesiges Puzzle fertig hatte.«
Agnes erwiderte das Lächeln nicht.
»Ich glaube, ich kenne mich mit Kindern gut genug aus, um das unterscheiden zu können.«
»Natürlich.«
»Das hier war etwas ganz anderes. Ich glaube, er wollte nicht nach Hause, weil er Angst vor etwas hatte. Vor ... Misshandlungen. So. Jetzt habe ich es gesagt.«
Inger Johanne empfand eine wachsende Irritation, die sie nicht richtig erklären konnte. Zunächst hielt sie es für eine Reaktion auf Agnes’ Erwartungshaltung, auf ihre flehenden Augen, die kleinen Zwischenfragen, mit denen sie sich überzeugen wollte, dass Inger Johanne ihr zustimmte. Dann begriff sie, dass ihr die ganze Situation einfach unangenehm war. In ihrem Urteil über Ellen konnte Agnes ja wohl kaum als unbefangen gelten, was Jon anging, erst recht nicht. Der Bruch drei Jahre zuvor war endgültig gewesen, und was immer dazu geführt haben mochte: Ellen hatte sicher ihre guten Gründe gehabt. Sich mit Agnes zu treffen war Inger Johanne als nette Abwechslung erschienen, obwohl sie wusste, dass Ellens Mutter einen grauenhaften Verdacht hegte. Aller Wahrscheinlichkeit nach war dieser Verdacht unberechtigt, und Inger Johanne hatte sich vorgenommen, sie zu trösten. Ihr zu versichern, dass Sander ein gutes Leben gehabt hatte und dass sein Tod ein tragischer Unfall war, für den niemand irgendeine Verantwortung trug.
Sie war bereit gewesen, sich anderer Leute Sorgen anzuhören, aber das hier wirkte inzwischen wie Verleumdung.
»Ich verstehe, dass Sie verzweifelt sind, weil das passiert ist«, sagte sie. »Das sind Ellen und Jon auch. Ich finde es aber dennoch ein starkes Stück, derartige Anklagen vorzubringen. Wenn Sie sich solche Sorgen gemacht haben, warum in aller Welt haben Sie nicht damals schon Alarm geschlagen? Was bringt es denn, jetzt, wo Sander tot ist, solche Beschuldigungen zu erheben? Sie wissen ja nicht mal, wie sein Leben in den vergangenen Jahren aussah.«
Inger Johanne merkte, dass sie zu laut redete. Sie war wütend und versuchte, ihrem Ausbruch die Spitze zu nehmen, indem sie ihrem Gast die trockenen Kekse zuschob.
»Ich zeig es Ihnen«, sagte Agnes tonlos.
»Was?«
Agnes zog ein Mobiltelefon aus der Handtasche. Es war ein Smartphone, ein HTC der allerersten Generation. Yngvar hatte so eines gehabt, das wusste Inger Johanne noch, aber es musste einige Jahre her sein.
»Wir haben das hier aufbewahrt«, sagte Agnes. »Es zeigt Sander, als er nach seinem letzten Besuch bei uns abgeholt werden sollte. Danach habe ich Ellen angerufen, und seither wollte sie nie wieder etwas mit uns zu tun haben.«
Ihre Stimme hatte ihre appellierende Sanftheit ganz und gar verloren. Als sie das Telefon einschaltete und etwas suchte, das, so dachte Inger Johanne, wohl ein Foto sein würde, nahm ihr Gesicht einen entschiedenen, fast gebieterischen Ausdruck an. Ihre Lippen spannten sich, und ihre Kiefermuskeln verrieten, dass sie die Zähne in einem gleichmäßigen Rhythmus zusammenbiss.
»Hier«, sagte sie und reichte das Telefon über den Tisch.
Inger Johanne hatte keine Lust, es zu nehmen.
»Trauen Sie sich nicht, es sich anzusehen?«, fragte Agnes.
Widerwillig griff Inger Johanne zu.
Es war kein Foto. Es war ein Video, und sie
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