Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
hörte es, ehe sie es sah. Ein Junge, der schrie. Als sie das Telefon dann in der Hand hielt, begriff sie, dass die Bilder noch schlimmer waren als der Ton. Der Film war technisch schlecht, und das Bild sprang auf und ab. Es war etwas zu dunkel in dem Raum, wo das Ganze vor sich ging, aber nicht dunkel genug.
Das hier waren nicht Trotz und Unwille. Der Ausbruch des fünf Jahre alten Sander war um Lichtjahre von kindlicher abendlicher Verweigerung entfernt, wie Ragnhild sie gezeigt hatte, wenn sie nicht bekam, was sie wollte.
Das hier war Angst. Als eine erwachsene Gestalt den Jungen dann packte und durch eine Tür mit ihm verschwand, brach der Film ab.
»Glauben Sie mir jetzt?«, fragte Agnes Krogh und nahm sich endlich einen Keks und aß ihn.
Henrik Holme saß wieder in seinem ursprünglichen Büro. Zwei Türme aus Unterlagen füllten die linke Seite des Schreibtisches. Auf der rechten Seite lag ein viel kleinerer Stapel, mit dem er fertig zu sein glaubte. Dieser Stapel war im Laufe des Tages kaum größer geworden.
Als er seinen Sommerjob angetreten hatte, hatte er die Verkehrsvergehen durchaus witzig gefunden. Die Leute brachten die unglaublichsten Entschuldigungen vor, wenn sie gegen die Verkehrsregeln verstoßen hatten. Einige wenige wurden wütend bei der Vorstellung, den Führerschein einzubüßen, aber die meisten entschieden sich für die entgegengesetzte Strategie. Sie krochen und schleimten, weinten und jammerten: Der Verlust des Führerscheins war offenbar für viele schlimmer als Gefängnis und hohe Bußgelder. Henrik Holme konnte sie gut verstehen. Er war in einem Dorf aufgewachsen, wo es kaum Busverbindungen gab. Man fühlte sich wie ein von den Eltern abhängiger Rotzbengel, bis zu dem Tag, an dem man achtzehn und von der Verkehrsbehörde als erwachsen betrachtet wurde.
Jetzt langweilte er sich.
Die Fälle unterschieden sich eigentlich kaum voneinander. Außerdem ging es meistens um ganz normale Leute. Um Steuerprüfer und Lehrer, Klempner und Rentner, die keine Schilder lesen konnten.
Henrik Holme wollte normalen Leuten nicht das Leben sauer machen. Er wollte Verbrecher verfolgen. Die kurze Woche, in der er an einem echten Fall hatte schnuppern dürfen, hatte ihn daran erinnert, warum er überhaupt zur Polizei gegangen war. Er wollte für Gesetz und Ordnung sorgen und wehrlose Opfer beschützen, schon als er sich mit zwölf Jahren für diesen Beruf entschieden hatte.
Mutlos öffnete er eine Mappe.
Mann, vierundfünfzig, auf der E 16 bei Alnabru mit 147 Stundenkilometern erwischt. Das ist wild, dachte Henrik und wandte sich seinem Rechner zu, um dem Mann eine Einbestellung zur Vernehmung zu schicken.
Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Henrik starrte es einen Moment lang an, dann nahm er den Hörer ab, räusperte sich und versuchte, seine Stimme etwas dunkler klingen zu lassen.
»Holme.«
»Hallo«, sagte am anderen Ende der Leitung eine Stimme. »Hier spricht Elin Foss. Ich sollte mich bei Ihnen melden.«
Sanders Betreuerin in der Schule, fiel Henrik sofort ein. In der Leitung gab es einen leichten Widerhall, und ihre Stimme war von einem unangenehmen Pfeifton untermalt.
»Ja! Äh ... Sie hören sich aber an, als ob Sie weit weg wären.«
»Das bin ich auch. In Australien. Tut mir leid, dass ich erst jetzt anrufe, aber ich wollte warten, bis ich bei Freunden von einem Festnetzanschluss aus telefonieren könnte und ...«
Ihre Stimme verschwand im Rauschen.
»Hallo?«
»Ich bin hier im Urlaub«, schrie sie fast. »Sie haben gesagt, es geht um Sander Mohr. Was ist denn los?«
Henrik wusste nicht so recht, was er antworten sollte. Als er nach seinem Besuch bei Haldis Grande bei Elin Foss eine Nachricht hinterlassen hatte, hatte er nichts davon gesagt, dass Sander tot war. Es war ihm nicht richtig vorgekommen, das auf eine Mailbox zu sprechen. Elin Foss hatte Sander mehrere Jahre lang betreut, und vielleicht hing sie an dem Jungen. Streng genommen war es überhaupt nicht richtig von ihm, mit ihr zu reden. Er hätte sie an seinen Nachfolger verweisen müssen. Sander Mohr ging Henrik Holme nichts mehr an.
»Wo Sie bei Freunden sind – haben Sie vielleicht einen Computer mit Skype?«, fragte er.
»Ja.«
»Würden Sie mir Ihren Skypenamen nennen und sich einloggen? Ich glaube, das wäre leichter für uns beide.«
»Elinfossekall«, sagte sie und buchstabierte das zweimal.
Henrik legte auf und stellte auf seinem privaten Laptop die Verbindung her. Elin Foss sah ganz
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