Schattenkinder
das gut sein?«
Jen starrte ihn an.
»Du hast keine Ahnung, stimmt's?«, sagte sie. »Du weißt gar nicht, warum sie das Bevölkerungsgesetz erlassen haben.«
»N-nein«, gab Luke zu.
»Es geht einzig und allein um Nahrung«, sagte Jen. »Die Regierung hatte Angst, dass wir alle irgendwann nichts mehr zu essen haben, wenn die Bevölkerung weiter anwächst. Deshalb haben sie dich und mich für illegal erklärt, um Leute vor dem Verhungern zu bewahren.«
Plötzlich bekam Luke ein doppelt schlechtes Gewissen wegen der Kartoffelchips, die er fröhlich weitergefuttert hatte. Er schluckte schwer und legte die Hände in den Schoß statt sie wieder in der Chipsschüssel zu versenken.
»Das heißt, wenn ich nichts mehr essen würde, ginge das Essen an jemanden, der legal ist«, sagte er. Aber in seiner Familie wären das entweder Matthew oder Mark, und sie waren nicht gerade am Verhungern. Bei Matthew zeigte sich inzwischen sogar die gleiche Speckrolle um die Hüfte wie bei seinem Vater. Dann fiel Luke der Landstreicher ein, der vor langer Zeit gesagt hatte: »Drei Tage nix zu beißen gehabt...« War das seine Schuld?
Jen lachte.
»Mach nicht so ein trübes Gesicht«, sagte sie. »Das ist nur das, was die Regierung glaubt. Aber sie irren sich.
Mein Dad hat gesagt, es gibt jede Menge zu essen, es wird nur falsch verteilt. Deshalb sollen sie das Bevölkerungsgesetz wieder aufheben. Deshalb sollen sie dich und mich und all die anderen Schattenkinder anerkennen. Und deshalb werden wir die Kundgebung machen.«
Trotz seiner Unwissenheit erkannte Luke an der Art, wie sie es sagte, dass die Kundgebung sehr wichtig war.
»Kannst du mir jetzt von der Kundgebung erzählen?«, fragte er geduldig.
»Ja«, sagte Jen. Sie drehte sich auf dem Stuhl herum. »Hunderte von uns - alles Schattenkinder, die ich ausfindig machen konnte - werden einen Protestmarsch gegen die Regierung veranstalten. Wir marschieren direkt vor das Haus des Präsidenten. Und wir geben keine Ruhe, bis sie uns die gleichen Rechte zugestehen wie allen anderen.«
Typisch, dachte Luke. Da treffe ich endlich ein anderes drittes Kind und ausgerechnet das ist völlig verrückt.
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Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
»Und«, fügte Jen hinzu, so übersprudelnd wie vorhin die Limonade, »du kannst auch mitkommen. Wäre das nicht toll?«
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Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
Kapitel 18
Ich...«, sagte Luke. Er konnte nicht in Jens triumphierendes Gesicht sehen. »Ich glaube nicht...«
Er dachte daran, wie viel Angst es ihm machte, einfach nur zwischen seinem und Jens Haus hin- und her-zurennen. Selbst an diesem Morgen, bei seinem dritten Ausflug durch die Gärten, hatte sein Herz so heftig geklopft, dass er gefürchtet hatte, es könne aus Angst auseinander springen. Dabei war er im Garten sicher, dass ihn niemand sah - zumindest so sicher, wie es überhaupt möglich war. Wie konnte Jen da annehmen, er würde sich in aller Öffentlichkeit zeigen, wo ihn jeder sehen konnte - noch dazu Regierungsleute -, und laut und deutlich sagen: »Ich bin ein drittes Kind! Ich will genauso behandelt werden wie alle anderen!«
»Angst?«, fragte Jen leise.
Luke konnte nur nicken.
Jen wandte sich wieder dem Computer zu.
»Habe ich auch«, sagte sie ganz sachlich. Sie tippte etwas und drehte sich dann wieder zu Luke um. »Ein bisschen wenigstens. Aber findest du nicht, dass es auch eine Erleichterung sein wird? Kein Verstecken mehr, keine Täuschungsmanöver, einfach - frei sein!«
Luke fragte sich, ob er die Bedeutung des Wortes »Erleichterung« bisher vielleicht missverstanden hatte.
Jens Kundgebung hörte sich an wie sein schlimmster Alptraum.
»Du kannst darüber nachdenken«, sagte sie. »Du musst dich nicht heute entscheiden. Wie war's jetzt mit Chatten?«
Luke sah wieder auf den Computerbildschirm, wo pausenlos neue Wortreihen auftauchten: Carlos: Bei mir ist es 40 Grad heiß, aber meine Eltern halten es für Verschwendung, tagsüber die Klimaanlage laufen zu lassen. Herzlos, was?
Sean: Warum schaltest du sie nicht einfach an und drehst sie ab, kurz bevor sie wiederkommen? Pat und ich machen es so. Das merken die nie.
Carlos: Klar, aber meine Eltern lesen ihre Stromrechnung.
Yolanda: Was können sie schon tun? Dir Hausarrest verpassen?
Carlos: Guter Witz. Ich suche gerade die Fernbedienung für den Thermostat.
Yolanda: Wo ist Jen?
Sean: So früh ist sie doch nie auf den Beinen.
Carlos: *flucht* - Meine Eltern haben die
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