Schattenkinder
seinem Zimmer setzte sich Luke aufs Bett und schlug das erste Buch auf. Es war sehr dick und der Titel bestand aus unheilvollen schwarzen Buchstaben: Die Bevölkerungskatastrophe. Innen waren die Seiten klein und eng bedruckt. Luke pickte sich einfach einen Satz heraus: »Während die Diskussion über die Belas-tungsgrenze der Erde anhält...« Er blätterte weiter. »Wäre die Fruchtbarkeitsrate in den industrialisierten Ländern bei oder unter 2.1 geblieben...« Luke wurde klar, dass das Lesen dieses Buches ähnlich schwer werden würde wie das Enträtseln der Briefe, die sein Vater von der Regierung bekam. Er sah sich die anderen beiden Bücher an: Die Hungerjahre, Eine Neubetrachtung und Die Bevölkerungswende. Sie sahen keineswegs einfacher aus. Die Computerausdrucke waren wenigstens kurz, aber beide, Das Problem der Schatten und Das Bevölkerungsgesetz: Der größte Fehler unseres Landes waren voller hochtrabender Worte.
Luke seufzte. Er hatte große Lust, die Bücher beiseite zu legen und Jen zu bitten sie ihm zu erklären. Und er hätte es wohl auch getan, wenn Jen beim Überreichen der Bücher nicht diese Bemerkung herausgerutscht wäre: »Du liebe Zeit! Daran habe ich gar nicht gedacht - du kannst doch lesen, oder?«
»Natürlich«, hatte Luke steif geantwortet. »Ich habe ja schließlich im Chatroom mitgelesen, oder?«
»Ja, aber du hättest auch nur so - ach, egal. Ich hab dich schon wieder beleidigt, nicht wahr? Ich und mein loses Mundwerk! Und selbst wenn, wäre das keine Schande. Aber ich mache es nur noch schlimmer. Ich halte jetzt die Klappe. Hier.«
Und dann, so hatte Luke den Eindruck, hatte sie nur immer noch dickere Bücher aus den Regalen gezogen.
Jetzt wandte er sich resolut dem Anfang der Bevölkerungskatastrophe zu und begann zu lesen: »Da einige Aspekte der Überbevölkerungsproblematik bereits im 19. Jahr hundert absehbar waren, kann sich ein uninformierter Beobachter nur darüber wundern, dass die Menschheit der Apokalypse so nahe kam. Aber...«
Luke griff nach dem Wörterbuch und stellte sich auf eine Menge Arbeit ein.
Die nächsten Tage regnete es ununterbrochen, so dass Luke unentwegt weiterlas ohne auch nur in Versuchung zu kommen, zu Jen hinüberzulaufen. Unten konnte er seinen Vater herumpoltern hören, der zwischen Haus und Scheune oder Maschinenschuppen hin und her lief. Jetzt, wo die Ernte vorbei war und die Schweine fehlten, langweilte sich sein Vater anscheinend, vermutete Luke. Also las er vorsichtig und war jederzeit darauf eingestellt, das Bevölkerungsbuch unter das Kopfkissen zu schieben und stattdessen eines seiner Abenteuerbücher hervorzuziehen. Am vierten Tag machte sich diese Vorsichtsmaßnahme bezahlt, als er plötzlich den Vater die Treppe heraufkommen hörte.
»Hallo, Luke, was machst du so?«
»Nichts«, antwortete Luke und merkte gerade noch rechtzeitig, dass er Die Schatzinsel verkehrt herum hielt.
Sein Vater sah es nicht.
»Wollen wir Karten spielen?«
Sie spielten Rommee auf Lukes Bett. Die ganze Zeit über stach die Ecke des Bevölkerungsbuches Luke in den Rücken. Wie gern hätte er seinem Vater Fragen über all das gestellt, was er in letzter Zeit erfahren hatte.
Fast das ganze erste Spiel hindurch musste er sich unentwegt auf die Zunge beißen. Der Vater gewann.
»Noch mal?«, fragte er und mischte die Karten.
»Wenn du nichts Wichtiges zu tun hast.«
»Im November? Ohne Tiere? Das Einzige, was ich im Moment zu tun habe, ist, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wie wir unsere Rechnungen bezahlen sollen, wenn uns das Schweinegeld ausgeht.«
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Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
»Könntest du den Winter über nicht irgendwas im Haus anbauen? Unten im Keller zum Beispiel, mit spezieller Beleuchtung, viel Wasser und zusätzlichen Mineralien. Das könntest du doch dann verkaufen?«, schlug Luke vor ohne nachzudenken. Er halte im Bevölkerungsbuch gerade ein Kapitel über Hydrokultur gelesen.
Der Vater sah ihn an.
»Davon habe ich schon mal was gehört, glaube ich.«
Luke gewann das nächste Spiel. Der Vater wirkte nicht sehr konzentriert. Als sie fertig waren, sagte er:
»Macht es dir was aus, wenn wir aufhören?«
Luke hatte eine Heidenangst, sein Vater könnte fragen, wo er etwas über Hydrokultur gehört hatte. Deshalb sagte er einfach: »Kein Problem.«
Der Vater murmelte beim Gehen: »Drinnen anbauen... hm, hm...«
Luke wünschte, er hätte den Mut, Fragen über das Bevölkerungsgesetz oder die Hungersnöte oder
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