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Schattenkinder

Schattenkinder

Titel: Schattenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Peterson Haddix
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auch nur zur Familiengeschichte zu stellen.
    Nachdem er sich einmal an die komplexe Sprache gewöhnt hatte, boten ihm Jens Bücher jede Menge Erkenntnisse. Soweit er verstand, war die Welt vor etwa zwanzig Jahren schlicht und einfach zu voll geworden. Armen Ländern erging es dabei besonders schlecht und die Menschen dort mussten oft hungern und waren unterernährt. Aber dann passierte etwas noch viel Schlimmeres: Ausgerechnet jene Gegenden der Welt, in denen die meiste Nahrung angebaut wurde, erlebten eine schreckliche Dürre. Drei Jahre lang wuchs dort so gut wie gar nichts. Die Menschen hungerten überall. In Lukes Land begann die Regierung die Nahrungsmittel zu rationieren und gestattete den Menschen nicht mehr als 1500 Kalorien pro Tag zu sich zu nehmen. Und um sicherzustellen, dass überhaupt genug zu essen da war, übernahm sie die Kontrolle über die gesamte Nahrungsmittelproduktion. Fabriken, die vorher Junkfood hergestellt hatten, wurden gezwungen gesunde Lebensmittel zu produzieren. Farmer mussten auf Ländereien umziehen, die höhere Erträge abwar-fen. (Ob das der Grund war, warum sie nicht in der Nähe der Großeltern lebten? Luke hätte die Eltern gern danach gefragt.) Aber das war den Politikern immer noch nicht genug. Sie wollten dafür sorgen, dass es nie wieder mehr Menschen gab, als die Landwirtschaft ernähren konnte. Also erließen sie zusätzlich das Bevölkerungsgesetz.
    Wenn er nun abends seinen Eintopf löffelte oder in sein Fleisch schnitt, plagte Luke das schlechte Gewissen.
    Vielleicht gab es irgendwo jemanden, der wegen ihm hungern musste. Aber das Essen war nun mal nicht dort
    - wo immer die hungernden Menschen waren -, es war hier, auf seinem Teller. Er aß alles auf.
    »Du bist so schweigsam in letzter Zeit, Luke. Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte die Mutter eines Abends, als er eine weitere Portion Kohl ablehnte.
    »Mir geht es gut«, sagte er und aß schweigend weiter.
    Aber er machte sich Sorgen. Sorgen, dass die Regierung vielleicht Recht hatte und dass es ihn eigentlich nicht geben sollte.
    Erst als er sich die beiden Computerausdrucke vornahm, ging es ihm wieder besser. Einer der Artikel begann mit den Worten: »Das Bevölkerungsgesetz ist Unrecht.« Im anderen hieß es: »Hunderte von Kindern leben versteckt, sie hungern, werden sinnlos misshandelt, vernachlässigt und gequält - sogar ermordet. Kinder in ein solches Schattendasein zu zwingen kommt einem Genozid gleich.«
    »Wie kann das sein?«, fragte er Jen eine Woche später, als er endlich wieder einmal zu ihr hinüberlaufen konnte. »Wie können die Bücher und Artikel sich so widersprechen?«
    Sie reichte ihm ein Glas Limonade.
    »Was meinst du damit?«, fragte sie.
    Luke zeigte auf die Bevölkerungskatastrophe. »In diesem Buch steht, dass die Menschheit ohne das Bevölkerungsgesetz ausgestorben wäre. Und hier« - er hielt den Artikel über das Problem der Schatten in die Höhe und wedelte mit ihm in der Luft herum -, »hier steht, das Bevölkerungsgesetz sei völlig unnötig und grausam. Sie sagen, dass es jede Menge zu essen gab, selbst während der Hungersnöte, aber die Barone hätten es gehortet.« Zu spät fiel ihm ein, dass auch Jen zu den Baronen gehörte. »Tut mir leid.«
    – 48 –
    Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
    Jen zuckte die Achseln, sie war nicht im Mindesten beleidigt.
    »Und was ist jetzt die Wahrheit?«, fragte Luke.
    Jen schüttete Kartoffelchips in eine Schüssel.
    »Na, denk mal nach. Die Regierung hat zugelassen, dass diese Bücher veröffentlicht wurden - wahrscheinlich hat sie sogar dafür bezahlt. Deshalb muss natürlich drinstehen, was die Regierung die Leute glauben machen will. Das ist nur Propaganda. Lügen. Aber die Artikel ... für die Autoren, die sie geschrieben haben, war es wahrscheinlich sogar gefährlich, die Informationen zu veröffentlichen. Also sagen sie die Wahrheit.«
    Luke dachte darüber nach. »Und warum hast du mich dann die Bücher lesen lassen?«, fragte er.
    »Damit du begreifst, wie dumm die Regierung ist«, sagte Jen.
    »Damit du verstehst, warum wir sie dazu bringen müssen, die Wahrheit zu sehen.«
    Luke betrachtete die vielen dicken Bücher auf der Küchenanrichte der Talbots. Sie sahen so offiziell aus, so wichtig - wie konnte ein Niemand wie er es wagen, zu behaupten, sie würden lügen?
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    Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
    Kapitel 20
    Als der Schnee kam, fürchtete Luke schon zwischen jedem Besuch bei Jen monatelang warten

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